Du musst Caligari werden! – Das virtuelle Kabinett
13.2.20 – 9.8.21
Zur Ausstellung
Er zählt zu den einflussreichsten Spielfilmen der Filmgeschichte: ›Das Cabinet des Dr. Caligari‹ (Regie: Robert Wiene) feierte am 26. Februar 1920 im Berliner Kino Marmorhaus Premiere. Anlässlich seines hundertjährigen Jubiläums widmen wir dem expressionistischen Meisterwerk eine Ausstellung.
Ausgehend von der damaligen innovativen Werbekampagne (»Du musst Caligari werden!«) schildert die Schau die Produktionsgeschichte dieses frühen Psycho-Thrillers und liefert auf der Grundlage von historischen Modellen und Zeichnungen Rekonstruktionen der spektakulären Sets. Neben der restaurierten Originalversion des Stummfilms ist der VR-Film ›Der Traum des Cesare‹ ein Highlight der Ausstellung. Der volumetrische Film ermöglicht es Besucher*innen in den dreidimensionalen Raum des Caligari-Films einzutauchen und sich virtuell auf den Sets zu bewegen.
Blick in die Ausstellung
Unsere Kuratorin Kristina Jaspers führt Sie durch die Ausstellung.
Themen der Ausstellung
Der VR-Film Der Traum des Cesare
Der aufwändig produzierte Kurzfilm ›Der Traum des Cesare‹ ist eine Adaption des Stummfilmklassikers ›Das Cabinet des Dr. Caligari‹ (D 1920, Regie: Robert Wiene). Der volumetrische Film wurde vom Goethe-Institut Warschau in Auftrag gegeben und 2019 im Volucap Studio in Potsdam-Babelsberg gedreht. Für die inhaltliche Entwicklung des begehbaren Films zeichnen der polnische Filmkurator Krzysztof Stanislawski und damalige UFA-X-Produzent Fabian Mrongowius verantwortlich. Art Director und Set Designer ist Nicolas de Leval Jezierski, Autor ist Floris Asche. Die besondere Technologie zeichnet reale Schauspieler von allen Seiten auf, so dass ihre Hologramme anschließend in einer beliebigen virtuellen Umgebung platziert werden können. Mit Hilfe einer VR-Brille können die Ausstellungs-Besucher*innen in den dreidimensionalen Raum des Films eintauchen, sich frei um die Schauspieler herum bewegen und so das eigene Filmerlebnis aktiv beeinflussen.
Für die VR-Experience standen zwei polnischen Schauspieler vor der Kamera: Arkadiusz Jakubik übernahm die Rolle des Dr. Caligari, das schlafwandelnde Medium Cesare spielte Jakub Gierszal.
Die Werbekampagne »Du musst Caligari werden!«
»Du musst Caligari werden!«, lautete der suggestive Satz, mit dem in Berlin großflächig für den Film geworben wurde – zunächst ohne den Hinweis, dass es sich um einen Film handelt. Der Imperativ des »Du musst« durchzieht den Expressionismus der unmittelbaren Nachkriegszeit. Gestaltet wurde die Illustration des Appells mit den zwei expressiv verdrehten Händen von den Grafikern Erich Ludwig Stahl und Otto Arpke, die auch das deutsche Uraufführungsplakat des Films verantworteten. Ein zweites Motiv, das während der Kampagne als Anzeige geschaltet wurde, zeigt den Schriftzug in einer Art »hypnotischem Wirbel«. Für das Hausprogramm des Kinos Marmorhaus gestaltete dessen Grafiker Josef Fenneker einen aufwendigen, ausklappbaren bunten Fächer. Die Werbekampagne von 1920 trug dazu bei, den Mythos des Films zu begründen und wird, wie der Stil des Films, bis heute zitiert.
Der prägende Stil
›Das Cabinet des Dr. Caligari‹ traf 1920 den Zeitgeist und setzte Maßstäbe: Mit verzerrten Perspektiven und grotesken Kostümen imitierte eine Welle sogenannter expressionischer Filme die bewusst anti-realistische, fantastisch-stilisierte Ästhetik des Films. F. W. Murnau griff in ›Nosferatu‹ (1922) die diffus-bedrohliche Atmosphäre auf und begründete so das Horror-Genre. Die offene Rahmenhandlung in einer Irrenanstalt, die die Erzählung am Ende (möglicherweise) als Wahnvorstellung entlarvt, etablierte Konventionen des Psychothrillers. Mit harten Kontrasten und langen Schlagschatten griff auch der Film Noir Elemente des Stummfilmklassikers auf. Ebenso erwies Tim Burton Dr. Caligari mit dem Gothic-Stil zahlreicher seiner Werke die Reverenz. Überdies war die Gestalt des Cesare stilprägend: Mit schwarzem Rollkragen, Leggins, zerzaustem Haar und Kajalstrich um die Augen schuf Conrad Veidt als Schlafwandler einen ikonischen Look, der bis heute vielfach von Schauspieler*innen und Rockstars zitiert wird.
Das legendäre Filmset
Seit den 1950er-Jahren gab es wiederholt Versuche, das legendäre Szenenbild im musealen Kontext zu rekonstruieren. Dabei konnte auf die Expertise des Filmarchitekten Hermann Warm zurückgegriffen werden, der die originalen Dekors zusammen mit Walter Reimann und Walter Röhrig entworfen hatte. Für die Münchner Ausstellung »Internationale Filmkunst« (1958) und das Musée du Cinéma der Cinémathèque française in Paris baute Warm gemeinsam mit seinem Kollegen Arno Richter Teile der Kulissen annähernd in Originalgröße nach. Für die Deutsche Kinemathek fertigte er Mitte der 1960er-Jahre mehrere Modelle an, die den Aufbau der Sets und ihre Anordnung im Lixie-Atelier in Weißensee veranschaulichen sollten, wo die Dreharbeiten einst stattfanden. Auf Grundlage der damals vorliegenden Filmfassung rekonstruierte er auch seine ursprünglichen Szenenbildentwürfe.
50 Jahre nach der Uraufführung setzte die Deutsche Kinemathek mit der Ausstellung »Caligari und Caligarismus« (1970) die Auseinandersetzung mit dem Stummfilmklassiker fort und befragte die noch lebenden Zeitzeug*innen. Weitere Ausstellungspräsentationen mit neu entdeckten Dokumenten folgten.
Der Mythos
Die von Mitwirkenden des Films – insbesondere den Drehbuchautoren und den Architekten – verbreiteten Erinnerungen und Anekdoten trugen maßgeblich zur Mythenbildung um ›Das Cabinet des Dr. Caligari‹ bei. In jüngerer Zeit konnten anhand verschiednener Dokumente viele der Legenden einer kritischen Prüfung unterzogen und in Teilen widerlegt werden.
Die Filmrestaurierungen
Der Film selbst wurde mehrfach restauriert. Die verbesserten technischen Möglichkeiten und eine neue Quellenlage führten in mehreren Schritten zu der digitalen Fassung von 2014, die wir in der Ausstellung zeigen. Den Ausgangspunkt der Restaurierung unter der Leitung von Anke Wilkening (Friedrich-Wilhelm-Murnau Stiftung) bildet ein gut erhaltenes Kameranegativ aus dem Bundesarchiv-Filmarchiv, dem allerdings der I. Akt fehlte. Dieser wurde aus anderen Kopien ergänzt, die originalen Zwischentitel aus unserem Archiv wurden eingefügt und die farbige Viragierung wieder hergestellt. Auf eine weitergehende digitale Manipulation wurde verzichtet, das Mastering erfolgte in 4K.
Die Originalkomposition von Giuseppe Becce ist verloren gegangen, vier Stücke haben sich jedoch in seiner »Kinothek«, einer Sammlung von Klavierstücken zur Filmbegleitung, erhalten. Junge Komponist*innen vom Institut für Neue Musik an der Musikhochschule Freiburg unter der Leitung von Cornelius Schwehr schufen den neuen Soundtrack in Anlehnung an Becces Begleitmusik. Die Musikfassung entstand in Kooperation mit ZDF und ARTE.
Pressereaktionen, Credits und Partner
Pressereaktionen
»Die 70. Berlinale ist zu Ende, aber etwas Schreckliches blieb zurück, eingeschlossen im zweiten Stock der Deutschen Kinemathek, einem spannenden Film- und Fernsehmuseum. Und es wird dort bleiben und die unerträgliche Leichtigkeit unseres Seins bis zum 20. April stören. (…) Dem Irrenarzt, seinem Geschöpf und der Architektur, in der sie sich bewegen, widmet die Berliner Kinemathek eine großartige Ausstellung. Sie ist voller Plakate, Skizzen, Briefe und Gespenster. In einem kleinen Raum mit neun Sitzplätzen ist in Abgeschiedenheit und Beklemmung die fein restaurierte Fassung des Films zu sehen. In einem anderen die Apotheose: Die höllischen Kreaturen haben oft die Macht, die Zeit zu überwinden und sich an das jeweilige Zeitalter anzupassen. Cesare wurde für das Kino geboren, als das Kino noch jung war. Hundert Jahre später hat UFA X für das Goethe-Institut mit ›Der Traum des Cesare‹ einen VR-Film geschaffen, in dem der Zuschauer die Territorien des Schlafwandlers beschreitet, der von Caligari beherrscht wird.« (Begoña del Teso, ›El Diaro Vasco‹, San Sebastián/Spanien 2.3.2020)
»Ungemein konzentriert fasst [die Ausstellung] Entstehung, Faszination und Wirkungsgeschichte zusammen. Sie gewährt einen knappen Einblick in das visionäre Drehbuch von Hans Janowitz und Carl Mayer, stellt die innovative Werbekampagne vor und demonstriert, wie »Caligari« augenblicklich zu einem Phänomen wird, das einen Foxtrott und Faschingsbälle inspiriert. Eher vorsichtig vollzieht die Schau jene Interpretationslinie nach, die laut Siegfried Kracauer von dem tückisch gebrechlich auf den Plan tretenden Hypnotiseur Caligari direkt zu Hitler führte. (...) Weit beherzter schlägt sie den Bogen zur unmittelbaren Gegenwart und erklärt Joaquin Phoenix’ »Joker« zum Nachfahren des Somnambulen. (...) Das Archiv der Kinemathek kann mit Warms Entwürfen prunken. Besonders eindrücklich sind die vom Architekten 1963 rekonstruierten Modelle, die wir gespenstische Puppenstuben anmuten.« (Gerhard Midding, ›Berliner Zeitung‹, 13.2.2020)
»Höhnisches Gelächter klingt aus den Kopfhörern, verschwörerisches Gemurmel. Die Szenerie ist seltsam verschroben (...). Im Blickfeld ein offener Sarg, darin ein Mann mit düster umschminkten Augen. Menschen mit allzu sensiblem Gleichgewichtssinn ist »Das Virtuelle Kabinett« eher nicht zu empfehlen. Man verliert doch ein wenig die Orientierung. (...) Filmgeschichte kann eben hochaktuell sein. Obwohl gerade im Fall Caligari die Vergangenheit spannend genug ist. Den Erfolg des Films machten nicht zuletzt die bemalten Kulissen aus. Fünf Modelle [von Hermann Warm], einige von ihm rekonstruierte Set-Zeichnungen und auch eine originale von Walter Reimann, sind in der Jubiläumsschau zu sehen. Sie stehen gleichsam für den Versuch, den beschädigt überlieferten Film wiederherzustellen.« (Andreas Conrad, ›Tagesspiegel‹, 13.2.2020)
»Eine der tollsten Stationen ist eine Art Pavillon, in dem die Geschichte des Schlafwandlers Cesare mithilfe einer Virtual-Reality-Produktion vom Goethe-Institut Warschau und der digitalen Abteilung der Filmfirma UFA noch einmal zu einem Erlebnis der ganz anderen, zeitgemäßen Art wird. (...) Das Ergebnis ist verblüffend. Anders als beim Film starrt man nicht auf eine Leinwand, sondern hat das Gefühl, mitten in der Szene zu stehen und das, was man sieht, anfassen zu können. (...) Es ist, als sei man Teil eines Geschehens, das man nicht beeinflussen kann, aus dem man aber auch nicht so einfach herauskommt. Die virtuelle Neuinszenierung kitzelt das Unheimliche, das Irrationale von »Das Cabinet des Dr. Caligari« noch einmal ganz neu heraus.« (Susanne Messmer und Joshua Guerrero Seifart, ›tageszeitung‹, 13.2.2020)
»Man würde es heute wohl »Guerilla-Marketing« nennen: Überall in Berlin tauchten Plakate mit einer zunächst sinnlosen Botschaft auf: »Du musst Caligari werden!« stand darauf. Darunter zwei knöchrige Hände, die nach irgendetwas greifen wollen – womöglich die eines Mörders. Worum es sich bei diesem mysteriösen Caligari handelte, war zunächst nicht klar. (...) In der Schau können die Besucher tatsächlich Caligari werden. Denn der Clou der Ausstellung ist ein begehbarer Film. Mit Hilfe einer Spezialbrille bewegen sich die Zuschauer in der Traumlandschaft des Filmes und können den Protagonisten quasi über die Schulter schauen (...). Welche Wirkung die Ästhetik des Films bis heute hat, zeigen Porträts von Johnny Depp aus Tim Burtons Film »Edward mit den Scherenhänden« von 1990, dem The-Cure-Sänger Robert Smith oder Joaquin Phoenix aus dem unlängst erschienenen Film »Joker«. Conrad Veidt als Cesare bleibt mit seinem schwarzen Rollkragen, den zerzausten Haaren und dem Kajalstrich unter den Augen bis heute stilbildend.« (Mathias Richter, ›Märkische Allgemeine‹, 12.2.2020)
Credits
Ausstellung
Kurator*innen: Kristina Jaspers, Peter Mänz
Projektleitung: Peter Mänz
Projektmanagement: Vera Thomas
Textredaktion: Julia Schell
Übersetzungen: Gérard A. Goodrow
Gestaltung Ausstellungsgrafik: Felder KölnBerlin
Ausstellungsbau und Einrichtung: Camillo Kuschel, Adriaan Klein
Restaurierung Papier: Mirah von Wicht
Konservatorische Betreuung Papier: Sabina Fernández-Weiß
Einrichtung der VR Installation: Fabian Mrongowius
Gestaltung Werbegrafik: Pentagram Design
Gestaltung Gobo-Spots: Atelier Schubert
Medien und Schnitt: Nils Warnecke, Stanislaw Milkowski
›Der Traum des Cesare‹
Konzept: Krzysztof Stanisławski
Koordinierung Goethe-Institut: Renata Prokurat
Regie: Sebastian Mattukat
Creative Producer: Fabian Mrongowius
Art Director, Bühnenbild, Designer: Nicolas de Leval Jezierski
Drehbuch: Floris Asche
Entwurf der Innenwände des Zeltes: Zdzisław Nitka
Skulptur des Cesare: Sylwester Ambroziak
Volumetrischer Film: Volucap Studio UFA X Babelsberg
Dank
Unser Dank gilt dem Goethe Institut Warschau und der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung sowie allen Kolleg*innen der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen.
Partner
Die Stiftung Deutsche Kinemathek wird gefördert durch
Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien
In Kooperation mit
Goethe Institut Warschau
Friedrich-Wilhelm-Murnau Stiftung
UFA X
Internationale Filmfestspiele Berlin
Ausstellungen
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Brandspuren – Filmplakate aus dem Salzstock
Zur AusstellungFragmente eines Plakats zu ›Das Cabinet des Dr. Caligari‹ wurden in einem Salzbergwerk in Grasleben gefunden. Erfahren Sie mehr zu den Plakatfunden in unserer Sonderausstellung »Brandspuren«.