Kinder-Spiele, Kinder-Blicke – Neue Perspektiven im deutschen Film, 1946–1989
Filmauswahl
- Zumutungen der Gegenwart
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Irgendwo in Berlin
DDR 1946, Regie: Gerhard Lamprecht, 85 Min., Format: DCP, 35mm
In der Nachkriegszeit spielen Kinder Krieg in den Trümmern Berlins. Sie tauschen dafür Lebensmittel gegen Feuerwerkskörper. Ihr Spiel ist Ausdruck einer von Krieg und Zerstörung traumatisierten Gesellschaft, der die (männlichen) Leitbilder verloren gegangen sind: Willis Vater ist gefallen, Gustavs Vater kehrt depressiv aus dem Krieg zurück, und korrupte Geschäftemacher, wie Dieb Waldemar, treiben ihr Unwesen. Wie weit werden die Kinder in ihren Spielen gehen? Wann werden sie das Spielen aufgeben, um sich der Zukunft zuzuwenden? Wie viele andere Filme aus Nachkriegszeiten verkörpern Kinderfiguren in ›Irgendwo in Berlin‹ die Traumata der Vergangenheit und das Versprechen auf einen Neubeginn.
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Deutschland im Jahre Null
I/BRD 1948, Regie: Roberto Rossellini, 73 Min., Format: 35mm
1948 brachte Roberto Rossellini mit ›Deutschland im Jahre Null‹ den italienischen Neorealismus nach Deutschland und drehte mit einem Kind in der Hauptrolle einen der ersten Nachkriegsfilme, die die Frage nach der Verantwortung und Zukunft der Deutschen aufwerfen. In den Streifzügen des Jungen Edmund durch die Ruinenlandschaft des Nachkriegs-Berlins erschließt sich eine desolate Gesellschaft: Orgelmusik dringt aus zerbombten Kirchen, Menschen zerteilen auf offener Straße ein totes Pferd, Kinder spielen in Ruinen Fussball. Rossellini verzichtet auf die melodramatische Überhöhung des Geschehens. Stattdessen fordert die dokumentarische Kamera die Zuschauenden heraus, mit eigenen Augen zu schauen und Stellung zu beziehen.
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Bübchen
BRD 1968, Regie: Roland Klick, 86 Min., Format: 35mm (über Filmgalerie 451)
Der zehnjährige Achim bringt im Spiel seine Schwester um und entsorgt die Leiche auf einer Mülldeponie. Als die Eltern von ihrer Party und die Babysitterin von der Spritztour mit ihrem Freund zurückkommen, beginnt eine fieberhafte Suche nach dem Kind, in der alle in erster Line versuchen, ihr Gesicht zu wahren. Der Debütfilm von Roland Klick stieß beim Start auf heftigen Widerstand und ist auch heute noch eine Herausforderung an die Zuschauenden: Denn er stellt Vorstellungen von kindlicher Unschuld ebenso infrage, wie er auf psychologische Erklärungen verzichtet.
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Die letzten Jahre der Kindheit
BRD 1979, Regie: Norbert Kückelmann, 105 Min., Format: 35mm (über Studiocanal)
›Die letzten Jahre der Kindheit‹ schildert die Odyssee eines straffälligen Kindes durch Institutionen der Verwahrung: Jugendstrafanstalt, Psychiatrie, Gefängnis. Gedreht an Originalschauplätzen und mit Vertreter*innen der Institutionen, die vor der Kamera ihre gegensätzlichen Positionen vertreten, zeichnet Kückelmann, der selbst als Anwalt tätig war, ein differenziertes Bild des Umgangs mit delinquenten Jugendlichen in der BRD der 1970er-Jahre. Die sensible Kameraarbeit von Jürgen Jürges verleiht dem Freiheitsdrang des Kindes und seinen Begrenzungen in Räumen und Landschaften Ausdruck.
- Kinder als Streunende und Reisende
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Die Reise nach Sundevit
DDR 1966, Regie: Heiner Carow, 75 Min., Format: DCP
Zur Blütezeit des amerikanischen Roadmovies drehte Heiner Carow mit ›Die Reise nach Sundevit‹ einen Kinderfilm, in der die Hauptfigur Tim zu Fuß und per Anhalter, mit dem Fahrrad, dem Fuhrwerk, dem Auto und schließlich sogar einem Kettenpanzer entlang der Ostsee reist. Tim, Sohn eines Leuchtturmwärters und in den Ferien allein, beschließt, einer Gruppe von Pionieren in ein Ferienlager nach Sundevit zu folgen. Als er zuvor noch einem Freund im Dorf helfen möchte und an eine Reihe weiterer hilfesuchender Erwachsener gerät, verpasst er die Abreise mit den Pionieren. Kurzentschlossen bricht er alleine auf, um ihnen zum Fähranleger nachzufolgen.
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Alice in den Städten
BRD 1974, Regie: Wim Wenders, 112 Min., Format: DCP (über Studiocanal)
In ›Alice in den Städten‹ wird das Roadmovie von der amerikanischen Weite in das deutsche Ruhrgebiet verlegt. Der Fotograf Philipp Winter kehrt nach einer Reise aus Amerika enttäuscht nach Deutschland zurück. Mit dem Mädchen Alice, die von ihrer Mutter am Flughafen zurückgelassen wurde, beginnt er die unmögliche Suche nach dem Haus ihrer Großmutter, von dem nur ein Name – Wuppertal –, ein Foto und das Bild in der Erinnerung existieren. In dem vielleicht unbeschwertesten Film von Wim Wenders bedingt die Figur des Kindes auch die spielerische Haltung der Regie: Ohne vorab geschriebenes Drehbuch, begibt sich Wenders mit seinen Figuren auf eine Reise, um die Gegend seiner eigenen Kindheit neu zu entdecken.
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Sabine Kleist, 7 Jahre...
DDR 1982, Regie: Helmut Dziuba, 73 Min., Format: DCP, 35mm
»Ich will nicht« – schreit Sabine der geliebten Erzieherin entgegen, als diese zum Abschied im Kinderheim gefeiert wird. Kurze Zeit später reißt sie Bilder von den Wänden, zerschlägt eine Scheibe und reißt aus. Während die anderen Sabine suchen, thront sie schon auf einem Pferd und reitet im Troß eines Zirkus die nächtliche Leipzigerstraße entlang. Eine zweitägige Reise durch die Stadt Berlin hat begonnen. ›Sabine Kleist, 7 Jahre…‹ zeigt seine Hauptfigur als eine Rebellin, die um Liebe und einen Platz in der Gesellschaft kämpft. Die Perspektive des Kindes vermittelt ein Kaleidoskop des Alltags im Ostberlin der 1980er-Jahre.
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Das goldene Ding
BRD 1972, Regie: Ula Stöckl, 118 Min., Format: DCP (über Edgar Reitz)
In ›Das goldene Ding‹ wird die bayerische Landschaft zu einem Spielfeld, auf dem das Regieteam gemeinsam mit Kindern, ein paar selbstgezimmerten Schiffen und Waffen als Requisiten die Argonautensage gibt: Sie ‚spielen’, wie die griechischen Helden, Jason und die Argonauten, auf der Suche nach dem Goldenen Fließ die Welt erobern. Anstatt einer illusionistischen Reinszenierung der Welteroberung durch griechische Helden in einem »Abenteuerschinken«, versuchten sie – so Edgar Reitz – »das ursprüngliche Erzählpotential« des Mythos wiederzuerlangen.
- Kindheitserinnerungen
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Die Kinder aus Nr. 67 oder Heil Hitler, ich hätt' gern 'n paar Pferdeäppel...
BRD 1980, Regie: Ursula Barthelmess, Werner Meyer, 102 Min., Format: DCP
Paul und Erwin sind beste Freunde und gehören zu einer Bande von Kindern des Berliner Hinterhofs Nr. 67: Die beiden Fußballfans verdienen mit Gelegenheitsarbeiten Geld, um sich einen Fußball zu kaufen, kämpfen mit den anderen gegen die Hitlerjungen und veranstalten solidarische Hoffeste. Doch ihre Spiele werden zunehmend von den sozialen und politischen Entwicklungen überschattet, die auch die Freundschaft der Jungen auf die Probe stellt. Geprägt vom Berliner Dialekt und der unbändigen Spielfreude der Kinderdarsteller, versetzt uns ›Die Kinder aus Nr. 67‹ in die Zeit der 1930er-Jahre.
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Deutschland, bleiche Mutter
BRD 1980, Regie: Helma Sanders-Brahms, 151 Min., Format: DCP
Aus der Perspektive der Tochter wird das Leben ihrer Mutter Lene in NS-Regime, Kriegs- und Nachkriegszeit erzählt. Der Film fragt nach der schuldhaften Verstrickung der gewöhnlichen Deutschen und rückt die alltäglichen Erfahrungen von Frauen ins Zentrum, die sich im Krieg emanzipierten und danach zurück an den Herd gedrängt wurden. In der Figur des Kindes wird die Ungleichzeitigkeit der Geschichte erfahrbar, die Kindheit zu Kriegszeiten als glückliche Beziehung zur Mutter erinnert. ›Deutschland, bleiche Mutter‹ thematisiert, was die Elterngeneration von ihren Erfahrungen und Traumata an die Nachfolgenden weitergibt: »Alles, was ich meiner Tochter an Erziehung geben kann, steckt in diesem Film.« (Helma Sanders-Brahms)
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Peppermint Frieden
BRD 1983, Regie: Marianne S.W. Rosenbaum, 110 Min., Format: 35mm
Mr. Peppermint Frieden – so nennen die Kinder den amerikanischen Soldaten, der in ihrem bayrischen Dorf mit seinem ›Amischlitten‹ vorfährt, Kaugummis verteilt und sich zum Stelldichein mit der Nachbarin trifft. Er verkörpert für sie in der Nachkriegszeit Frieden und Freiheit. Nachts aber träumt Maria davon, dass er wie ein Hase gejagt und in einen Ofen gesteckt wird. Und auch der Russe Ivan macht ihr Sorgen – wird er sich mit Mr. Peppermint versöhnen? Maria versucht sich einen Reim auf die schrecklichen Geheimnisse zu machen, von denen die Erwachsenen schweigen. ›Peppermint Frieden‹ ist wohl der radikalste Versuch im deutschen Kino, die Geschichte aus der Perspektive eines Kindes zu erzählen: Schwarzweiße Szenen wechseln mit knallbunten Pop-Traumsequenzen, reale Ereignisse überlagern sich mit Motiven aus Märchen, Religion und Romantik.
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Kindheit
DDR 1987, Regie: Siegfried Kühn, 88 Min., Format: 35mm & DCP
Der neunjährige Alfons verbringt das letzte Kriegsjahr auf dem Bauernhof seiner Großmutter in Schlesien. Nach dem Tod ihres despotischen Mannes, verliebt sich diese in den Schausteller Nardini, der mit seinen Zirkus im Dorf gastiert und von den NS-Schergen bald verfolgt wird. Alfons vergöttert seine unkonventionelle, fantasiebegabte Großmutter, die die Hofwirtschaft fest im Griff hat, aber auch schon mal im Nachthemd auf den Dächern tanzt. Er wird zum Mitwisser der illegitimen Liebesbeziehung und muss sich zur zunehmenden Feindseligkeit der Dorfbewohner gegenüber den ›Zigeunern‹ verhalten. Die radikal subjektive Perspektive des Kindes motiviert eine märchenhaft-groteske Erzählung, in der die Fantasie sich mit der Realität vermischt, und dem Unwesen des NS-Regimes mit Komik und Lebenslust begegnet wird.