Sensitive Seismographen vergangener Gegenwarten
Inhalt
Jung und wild im Herzen | Teil 1
Wir alle durchlaufen in unserem Leben Transformationsprozesse, wir wachsen in eine Lebensphase hinein und als andere*r heraus – ob im Kindesalter, im Erwachsenenalter oder im »hohen Alter«. Zu jeder Zeit jedoch verlangt eine dominante Ordnung von Individuen, sich gesellschaftskonform zu verhalten und zu präsentieren, sich Konventionen zu fügen. Geschlechterrollen, Klassenverhältnisse, chrononormative – also nach gesellschaftlich vorgegebenen Abschnitten geordnete – Lebensabläufe, moralische Werte, Vorstellungen von Partner*innenschaft und Familie sind in unserer (Film-)Kultur omnipräsent. Sie bilden Muster für einem jeweiligen biologischen Alter entsprechende »erfolgreiche« Lebensgestaltungen.
Besonders formativ und wegweisend scheint jener Übergang, in dem wir uns von der Kindheit verabschieden, um über die vor Turbulenzen nicht gefeite Schwelle der Adoleszenz in das Erwachsenenleben katapultiert zu werden. Das transitorische Coming-of-Age-Erlebnis kann als befreiend oder repressiv wahrgenommen, rebellisch durchschritten, mal abenteuerlustig, mal strebsam angegangen oder als lebensbedrohlich für die eigene Identität erfahren werden. Das Ich findet sich in dieser Phase in verschiedenen Zwischenräumen wieder: Wohin soll und kann der Weg gehen?
Filmemacher*innen werfen den Blick in die Adoleszenz oftmals durch eine autobiographisch geschärfte Brille, durch die sich die Reibflächen des Individuums mit der dominanten Ordnung erkennen und als zeitgeschichtliche Indikatoren von Generationskonflikten demaskieren lassen. Gesellschaftliche Umbrüche, politische und wirtschaftliche Krisen werden zu kleinen oder größeren Feuern des individuellen Wandels, repressive Strukturen zur Wurzel für mangelnde Entscheidungsfindungen oder Grenzübertritte.
Über adoleszente Figuren werden emotionale, körperliche und zukunftsgewandte Sehnsüchte, Hoffnungen und Ängste erfahrbar, die als Einklang oder Widerspruch mit Machstrukturen und Diskriminierungsmechanismen einer Kultur, Zeit, Politik und Gesellschaft lesbar werden. Als Fixpunkt eines jeden Lebens zeigt sich die Thematisierung des Erwachsenwerdens seit dem Beginn des narrativen Bewegtbildes als fester Bestandteil der Filmgeschichte. Auch wenn sich das Verständnis der Adoleszenzphase im Zuge gesellschaftlicher Transformationen im Laufe der letzten 110 Jahre deutlich verändert hat, bleibt die Tatsache bestehen, dass jugendliche Held*innen sich stets als besonders sensitive Seismographen vergangener Gegenwarten erweisen.
Die Anfänge: Adoleszenzporträts im Wandel der Zeit
Betrachtet man Coming-of-Age-Erzählungen im Lichte ihrer Zeitgeschichte, drängt sich der Blick auf die zentralen Generationskonflikte ihrer Jugendbewegungen geradezu auf. Jede Generation trägt das Potenzial einer Rebellion in sich, nicht alle gehen in die Geschichtsnarrative ein. Während die Anfänge einer Historie des Coming-of-Age- und des Teen-Films v. a. im US-amerikanischen Raum oftmals in die 1950er-Jahre datiert werden, belehrt uns ein Blick in die europäische und US-amerikanische Filmlandschaft der 1910er-Jahre eines Besseren.
Die von Ossi Oswalda, Mary Pickford, Dorrit Weixler oder Asta Nielsen verkörperten Backfische eroberten als rebellische, freche Mädchen bereits zur Zeit des Frühen Films die Leinwände. Als stets zentral und progressiv erweist sich für ihre Figuren der Widerstand gegen binäre Geschlechternormen, die von den emanzipierten Flapper(figure)n der 1920er-Jahre ebenso bewusst aufgebrochen wurden. Bevor die verheerende Zeit des Nationalsozialismus für einen auch nach dem Zweiten Weltkrieg anhaltenden konservativen Backlash sorgen sollte, leistete ein zu einem Großteil aus Frauen bestehendes Berliner Filmteam (Drehbuch: Christa Winsloe, Regie: Leontine Sagan) mit einer Coming-of-Age-Erzählung Pionierarbeit: ›Mädchen in Uniform‹ (1931) wird meist als erster lesbischer Spielfilm betrachtet und avancierte zum Kultfilm in der Frauen- und Lesbenbewegung.
Einen filmischen Zugang zur »Silent Generation«, jene vom Krieg gezeichnete Generation, die den »Babyboomern« voranging, fanden noch in der unmittelbaren Nachkriegszeit gedrehte Filme wie ›Deutschland im Jahre Null‹ (1948) von Roberto Rossellini, ›Fahrraddiebe‹ (1948) von Vittoria De Sica oder ein wenig später ›Die Müßiggänger‹ (1953) von Federico Fellini. Die Freundesgruppe aus Fellinis Film treibt sich ähnlich wie die typischen Halbstarken der 1950er-Jahre auf der Suche nach einer Zukunft in den Straßen ihrer Heimatstadt herum. Die jungen Ganganführer aus ›… denn sie wissen nicht, was sie tun‹ (1955) oder ›Der Wilde‹ (1953), aus ›Die Halbstarken‹ (1956) oder ›Berlin – Ecke Schönhauser‹ (1957) hingegen tauchen als delinquente Jugendliche in die Kriminalität ab und stehen vor allem in Konflikt mit ihrer meist wenig verständnisvollen Elterngeneration.
Ikonische Stars dieser Erzählungen, allen voran James Dean, haben sich heute als Bilder eines Zeitgeistes im kulturellen Gedächtnis verankert. Adoleszente Wut und Frustration gegen die Missstände des Systems fanden sich nachfolgend in vielen Coming-of-Age-Filmen, die oft mit Film-Noir-Elementen spielen (z. B. ›Rumble Fish‹ (1983)), eine Nähe zum Sozialrealismus einbringen (z. B. ›Lärm und Wut‹ (1988)) und meist unweigerlich an Vorstellungen von patriarchaler Männlichkeit gebunden sind. Der soziale Brennpunkt wird in vielen dieser Filme zur indirekten Kritik an starren Klassenverhältnissen und ungleich verteilten Privilegien. Die männlichen Helden stehen an vorderster Front, während die weiblichen Figuren meist als anfeuernde Objekte des Begehrens temporär mitrebellieren – in der für viele Frauen einzigen Lebensphase, die weder gesellschaftlich durch die Obhut der Eltern noch durch das Band der Ehe oder der Mutterschaft fest geregelt und abgeriegelt ist.
Neue Wellen: Surfen auf Innovation und Identität
Ähnlich wie sich Filmschaffende ab den 1960er-Jahren vermehrt gegen etablierte Konventionen der Filmindustrie stellten, ließen sie auch ihre Protagonist*innen gegen die starre Gesellschaftsnormen ankämpfen. Das Schaffen der Nouvelle-Vague- sowie der Neorealismus-Filmemacher*innen inspirierte weltweit formal und inhaltlich innovative Coming-of-Age-Geschichten. In Věra Chytilovás ›Tausendschönchen‹ (1966), einem Hauptwerk der Tschechoslowakischen Neuen Welle, stellen die beiden jungen Protagonistinnen nicht nur narrativ die Welt auf den Kopf, sie zerschneiden im emanzipatorischen Handumdrehen auch das Filmmaterial selbst. Einer dem italienischen Neorealismus nahestehenden Erzählweise bedient sich Satyajit Ray für seine in Indien angesetzte Geschichte ›Aparajito‹ (1956), während sich etwa der senegalesische Regisseur Djibril Diop Mambétys für ›Touki Bouki‹ (1973) von der französischen Nouvelle Vague inspirieren ließ. In den USA rechneten die New Hollywood-Rebell*innen mit den Autoritäten und den Konventionen des alten Studiosystems ab, wie etwa Mike Nichols mit ›Die Reifeprüfung‹ (1967) oder Brian de Palma mit seinem Body-Horror-Coming-of-Age-Film ›Carrie‹ (1976).
Von »Papas Kino« wollten sich auch die Oberhausener in Deutschland verabschieden, beispielhaft hierfür: Volker Schlöndorffs ›Der junge Törless‹ (1966). Zur gleichen Zeit begannen Filmemacherinnen wie Helke Sander, Jutta Brückner und Ula Stöckl, in Belgien bzw. Frankreich Chantal Akerman und Agnès Varda (›Vogelfrei‹ (1985)) oder in Italien Lina Wertmüller (›Die Basilisken‹ (1963)) ihren Kampf aufzunehmen, um als Frauen überhaupt Sichtbarkeit in der Filmlandschaft zu erlangen – denn »Mutters Kino«, weder als Vor- noch als Feindbild, gab es nicht. Die politisierte Auseinandersetzung mit der eigenen Identität in diesem Zeitraum kann als ausschlaggebend für viele nachfolgende Coming-of-Age-Filme betrachtet werden. Mit ›Hungerjahre‹ (1980) und ›Gölge – Die Zukunft der Liebe‹ (1980) beispielsweise verhandelten Brückner sowie Sema Poyraz und Sofoklis Adamidis auf autobiographischer Basis und im letzteren Falle mit postmigrantischer Perspektive identitäts- und geschlechtsbasierte Fragen der Adoleszenz, wie sie im 21. Jahrhundert noch häufiger bearbeitet werden würden.
Zunächst aber sollte ab den 1980ern eine Welle von High-School-Filmen, ausgelöst durch die Komödien von John Hughes, sofortige Beliebtheit erfahren und ihre Wirkung bis in die frühen 2000er und ihre patriarchal geprägten, populärkulturellen Schulhof-Settings entfalten. Coming-of-Age war in diesen Filmen meist mit eher typisierten Figuren, männlichen Blicken und häufigem Body-Shaming verbunden. Parallel zu diesen Narrativen, die sich emblematisch für den nach der Zweiten Frauenbewegung eintretenden feministischen Backlash erwiesen, erlebte das New Queer Cinema mit Werken wie Cheryl Dunyes ›The Watermelon Woman‹ (1996) oder Gregg Arakis ›Teenage Apocalypse Trilogy‹ (1993–1997) in den USA seine Geburtsstunde. Diese Filme einer neu entstehenden unabhängigen Filmszene erzählten von der Adoleszenz, indem sie gesellschaftliche Strukturen hinterfragten und sich somit nicht nur auf die zu diesem Zeitpunkt bereits vielfach typisierte Darstellung von Partys, Drogen und Sex beschränkten.
Im wiedervereinten Deutschland der 1990er-Jahre erwiesen sich urbane und ländliche Umgebungen für junge Held*innen und Anti-Held*innen als Umbruchsorte individueller Suchbewegungen, wie in Werken der Berliner Schule oder in Helke Misselwitz’ ›Herzsprung‹ (1992) deutlich wird. Marginalisierte Identitäten und ihr Aufbegehren gegen gesellschaftliche Unterdrückungsmechanismen ins Licht zu rücken, sollte in Verbindung mit einem zunehmenden gesellschaftlichen Aufbruch im 21. Jahrhundert zu einer der spannendsten und relevantesten Perspektiverweiterung des Genres werden.