Kostat? Costard!
Inhalt
2013 fand der schriftliche Nachlass von Hellmuth Costard seinen Weg in das Personenarchiv der Deutschen Kinemathek. Costard war zu diesem Zeitpunkt schon seit 13 Jahren verstorben und ich steckte noch mitten im Abitur. Zuvor lagerte der Nachlass im Staatsarchiv Hamburg. Die Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW) erstellte zu dieser Zeit im Rahmen eines Master-Programms eine Plattform zum Selbststudium, »Archiv und Film«, die noch heute online ist. Darin wurde der Nachlass als Praxisbeispiel verwendet und gibt spannende Einblicke in die erste Ordnungsarbeit am Bestand. Es gab sicher eine Menge zu tun, denn aus Sicht der Hamburger handelte es sich um »ein Beispiel für eine besonders unstrukturierte Ablieferung.«
Ein weiteres Jahrzehnt verging, bevor ich im Oktober 2022 zum Team der Sammlungen der Deutschen Kinemathek stieß und kurz darauf im November meine erste Bekanntschaft mit dem Costard-Nachlass im Außenmagazin machen durfte. Es galt, eine mehrtägige Sichtung des gesamten Bestands vorzubereiten, was ein schwieriges Unterfangen darstellte. Denn trotz der Hamburger Vorarbeit lagerte das Material noch in großen Umzugskisten auf zwei Europaletten und innen fanden sich weiterhin viele lose Blätterstapel, die sich jeglicher Einordnung entzogen. Lediglich grobe Bestandsverzeichnisse gaben Auskunft über die zu erwartenden Inhalte. Die Verzeichnung des Nachlasses in unserer digitalen Datenbank, mit möglichst umfangreichen Informationen angereichert, rückt erst jetzt in eine absehbare Zukunft.
Die Abteilung Filmerbe hatte durch Förderprogramme schon früh die Möglichkeit am filmischen Nachlass zu arbeiten. Nach der Aufnahme des vier Europaletten umfassenden Produktionsarchivs aus audiovisuellem Material ging es direkt los. Einige wichtige Werke Costards konnten seit 2013 bereits digital restauriert und für die Zukunft erhalten werden. Dies geschah teilweise mit Kooperationspartnern, in Einzelfällen aber auch in Eigeninitiative. Sichtungsanfragen zu den entsprechenden Filmen lassen sich dadurch flexibler bedienen und bedingen nicht mehr zwangsläufig den Besuch im Archiv. Trotz dieser Teilerfolge befindet sich die Arbeit weiterhin im Prozess und es besteht nach wie vor die Absicht den Zugang zu Costards Werken für alle Interessierten sukzessive zu erleichtern.
Eine erste ausführliche Sichtung des schriftlichen Costard-Materials wurde hingegen erst deutlich später von einem Team um Lars Henrik Gass, Leiter der Kurzfilmtage in Oberhausen, unternommen. Das daraus entstandene Werk ›Hellmuth Costard. Das Wirkliche war zum Modell geworden‹ (2021, Brinkmann & Bose Verlag Berlin) gibt einen breit gefächerten Einblick in den Bestand. Einzelne Fundstücke zeugen repräsentativ von den diversen Ideen und Projekten, die Costard beschäftigten. Die gewählte Auswahl wurde in der taz als »eine in ihrer Vielfalt und Diversität verwirrende Fundgrube« (Rainer Komers, taz, 22.07.2022) beschrieben. Diesen Charakter trägt das Archiv auch nach der Veröffentlichung noch.
Was es für mich so spannend macht, an dem Bestand zu arbeiten, ist der intime Blick auf das eng verwobene Netz Costards kreativer Gedankenwelt, der durch einen hohen Grad an Vollständigkeit ermöglicht wird. Die Filme und Projekte stehen selten nur für sich, sondern können eher als Teile größerer Ideen gesehen werden, die Costard meistens über Jahre beschäftigen. Die Zusammenhänge und die akribische Arbeit an den Ideen dokumentiert der Nachlass und füllt auf diese Weise die Lücken, die die Filmografie aufweist. Ein verbindendes Element, das sich durch alle Schaffensphasen zieht, ist Costards permanentes Ringen um die Umsetzung und Finanzierung seiner Vorhaben. Der Kurzfilm ›Besonders wertvoll‹ (1968, Regie: Hellmuth Costard) ist nur der Startschuss einer Jahrzehnte andauernden Abarbeitung an der deutschen Filmförderung und ihren bürokratischen Mühlen. Der Nachlass liefert mit einem umfangreichen Fundus an Korrespondenzen, aber auch kleineren Gedankenskizzen einen Eindruck von den Enttäuschungen über nicht realisierte oder nicht realisierbare Arbeiten, offenbart aber auch die ehrliche Freude und Begeisterung, wenn sich Projekte im Sinne Costards entwickelten.
Der große Durchbruch blieb Costard verwehrt, aber seine Rolle als kleiner, unabhängiger Filmemacher nahm er an. Er wurde nie müde, neue Anläufe zu starten und blieb, trotz der Ungewissheiten über die Umsetzbarkeit stets akribisch in seinen Recherchen und Vorarbeiten. Als Schlüsselwerk kann hier ›Der kleine Godard‹ (1978, Regie: Hellmuth Costard) genannt werden, in dem Costard den Versuch unternimmt, sich im Verhältnis zu Kollegen wie Hark Bohm, R. W. Fassbinder und Jean-Luc Godard zu betrachten und seinen Platz zu finden und zu beschreiben. Es entstand ein Film über das Scheitern, der, gemessen an den Auszeichnungen, zu einem seiner größten Erfolge wurde. Zahlreiche technische Zeichnungen, Anleitungen und Dokumente lassen die ausgedehnte Arbeit am Echtzeit-Super-8-Kamerasystem nachverfolgen, die auch im Film thematisch eingebunden wurde. Zu den finalen englischen Brieffassung an den »großen« Jean-Luc Godard formulierte der »kleine« Costard gewissenhafte, handschriftliche Vorlagen in deutscher Sprache. Wenn er auch immer wieder aufwendig um die Gunst von Publikum und Geldgebern kämpfen musste, war ihm Godards Anerkennung seit dieser Zusammenarbeit sicher (und so auch die meine).
Wagemutig erkor ich die weitere Erschließung des Nachlasses zu meinem ersten Großprojekt bei der Kinemathek, mit der ich nun schon seit einigen Monaten stetig voranschreite. Meine Beziehung zu Costard war anfangs nicht unbedingt die eines Biografen. Wir hatten lediglich fünf Jahre parallel auf diesem Planeten gelebt, an der Uni wurden lieber Costards Zeitgenossen wie Kluge, Fassbinder oder Farocki besprochen und abgesehen von ›Besonders wertvoll‹ (1968, 2013 von absolut Medien GmbH veröffentlicht) und ›Fußball wie noch nie‹ (1971, 2006 von Zweitausendeins veröffentlicht) wurde bisher keinem seiner Filme die Ehre einer DVD/Blu-Ray-Veröffentlichung zuteil. Umso wichtiger scheint mir die weitere Arbeit an dem Bestand. Ich schätze die kreative und visionäre Kraft von Costards Werk. Die Sichtbarkeit würde ich allerdings als ausbaufähig beschreiben und sie liegt mit seinem Nachlass zum Teil auch in der Verantwortung von uns, der Deutschen Kinemathek.
Biografie
Hellmuth Costard
Geb.: 1.11.1940 Holzhausen bei Leipzig. Gest.: 12.6.2000 Oberhausen
Hellmuth Costard war ein deutscher Regisseur, Drehbuchautor, Produzent und Schauspieler.
Seine Familie zog 1946 nach Hamburg, wo er ab 1962 Psychologie studierte und ab 1964 erste Kurzfilme drehte. 1968 wurde er Mitbegründer der Hamburger Filmemacher Cooperative. Im selben Jahr sorgte sein provokativer Kurzfilm ›Besonders wertvoll‹ für einen Skandal bei den Kurzfilmtagen in Oberhausen. In der Folge realisierte er erste experimentelle Langfilm-Projekte im Auftrag des Fernsehens, zum Beispiel ›Fußball wie noch nie‹. Er zog nach Berlin, erhielt einen Lehrauftrag an der dffb und gründete mit Jürgen Ebert die Produktionsfirma B-Pictures. Ende der 1970er- und über die 1980er-Jahre beschäftigte er sich über mehrere Filme mit dem Thema der Zeitcodierung. In dem Zusammenhang entstanden Werke wie ›Der kleine Godard‹, ›Witzleben‹ und ›Echtzeit‹. 1993 konnte er nach sechs Produktionsjahren noch ›Aufstand der Dinge‹ abschließen, doch fortwährende Probleme mit der Finanzierung seiner Filme führten zu einem stärkeren Fokus auf andere Projekte. Besonders die kostengünstige Erzeugung von Solarenergie beschäftigten ihn über die 90er Jahre bis zu seinem Tod infolge einer Krebserkrankung. Die von Costard entwickelte »sun-machine«war auch Thema seines letzten Films ›Vladimir Günstig – Eine trojanische Affäre‹, der posthum noch von Wegbegleiter*innen fertiggestellt wurde.
Autorenbiografie
Informationen zur Reihe
Die Mitarbeiter*innen der Kinemathek stellen in dieser Reihe anlässlich von 60 Jahre Deutsche Kinemathek Sammlungsbestände und Filmschätze vor, mal identitätsstiftend, mal kritisch, mal humorvoll – ein ganz persönlicher Blick auf das Filmerbe der Deutschen Kinemathek.