Kanonsprengungen

Inhalt

Sektionsleiter Rainer Rother und Annika Haupts, Mitglied der Auswahlkommission und Programmkoordinatorin, über den hohen Anteil an Regisseurinnen in der Retrospektive »Das andere Kino – Aus dem Archiv der Deutschen Kinemathek« und warum sich die Filme gerade für ein junges Publikum lohnen.

Die Retrospektive 2023 umfasste rund 30 Filme aus fünf Kontinenten. Inwiefern unterscheidet sich die diesjährige Auswahl von ihr und allen anderen vorangegangenen Berlinale-Retrospektiven?

RR: Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass wir uns diesmal auf den Bestand der Deutschen Kinemathek konzentrieren – und zwar ausschließlich auf deutsche Titel. Die Entscheidung für diese Ausnahme-Retrospektive ergab sich aus der besonderen Situation der diesjährigen Berlinale mit ihrem reduzierten Budget und in Anbetracht der zur Verfügung stehenden Spielstätten, was dazu führt, dass ausschließlich unsere neueren Digitalisierungen zum Einsatz kommen. Sie alle stehen mit englischen Untertiteln in unserem Verleih zur Verfügung.

Welche inhaltlichen Konsequenzen ergaben sich aus dieser Entscheidung?

RR: In unserem Bestand ist ein Bereich sehr, sehr stark ausgeprägt, den man vielleicht nicht unmittelbar bei einer Kinemathek vermutet, nämlich der unabhängige, der experimentelle, der Underground-Film. Wir denken, dies ist auch für ein junges Publikum von besonderem Interesse. Deshalb haben wir uns für das Thema »Das andere Kino« entschieden.

AH: Hinzu kam, dass wir 2023 das 60-jährige Jubiläum der Kinemathek gefeiert haben. Aus diesem Anlass haben wir den Filmbestand einmal neu in den Blick genommen und uns gefragt: Was steht außerhalb des Kanons? Was könnte man neu präsentieren? Wie könnte man diese oftmals sehr unterschiedlichen Filme zusammenbringen und einander gegenüberstellen? Dieser kritische Blick hat neue Perspektiven eröffnet, die nun in der Retrospektive zum Tragen kommen.

»Das andere Kino« kennt man als cineastischen Kampfbegriff der Hamburger Filmmacher Cooperative aus der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre. Inwiefern lassen sich auch die schon früher entstandenen Filme der Retrospektive unter dieses Label rubrizieren?

RR: Wir haben nach Filmen gesucht, die außerhalb des Mainstreams standen. »Das andere Kino« ist für uns allgemein der konzeptionelle Schirm, unter dem sich diese Produktionen versammeln. Um eine gewisse thematische Dichte zu bekommen, haben wir auf noch frühere Filme – aus der Weimarer Republik und den 1950er-Jahren – verzichtet. Unsere Auswahl beginnt mit den frühen 1960er-Jahren, mit ›Tobby‹ (1961), ›Zwei unter Millionen‹ (1961) und ›Die endlose Nacht‹ (1963). Dies sind Filme, die im damaligen Kontext tatsächlich als »anderes Kino« empfunden wurden. Das mag bei ›Tobby‹, der ausschließlich on location gedreht wurde, an der Authentizität gelegen haben. Bei ›Zwei unter Millionen‹ daran, dass die Liebesgeschichte anders erzählt wird als bei einem klassischen Melodram, während ›Die endlose Nacht‹ formal und durch seine Konzentration auf eine einzige Nacht und einen einzigen Schauplatz etwas Experimentelles hat. 

AH: Es gibt zudem einen inhaltlichen roten Faden, der sich durch alle ausgewählten Filme zieht, und den könnte man vielleicht am besten als »gesellschaftliche Nonkonformität« beschreiben. Es sind Filme, die sehr nah und realistisch an Lebenswelten angebunden sind. Die Filme arbeiten ihre jeweilige Gegenwart nicht ab, sondern ein. Dabei vermischen sich in ihnen dokumentarische Formen mit Spielfilminszenierungen, was zu einem besonderen Spannungsreichtum führt. Ein weiterer Gesichtspunkt ist das kritische Verhältnis zur jüngeren deutschen Geschichte. Dabei reicht das Nachdenken über die Vergangenheit von der fortgesetzten Diskriminierung einer Gruppe Schwarzer Reisender in ›Die endlose Nacht‹ über Thomas Braschs in der Nachkriegszeit spielenden Film ›Engel aus Eisen‹ (1980), in dessen Zentrum ein ehemaliger NS-Scharfrichter steht, bis zu Jeanine Meerapfels autobiografischem Werk ›Im Land meiner Eltern‹ (1981). Spielerisch aufgearbeitet wird es von Ulrich Schamoni mit kitschigen Nazi-Devotionalien in ›Chapeau Claque‹ (1974). 

Gibt es verbindliche Kriterien für Filme, um einem »anderen Kino« zugerechnet werden zu können? 

RR: Ich glaube, dass sich diese Kriterien in den unterschiedlichen Jahrzehnten veränderten. In den 1960er-Jahren sind realistischer Ton und Blick das Entscheidende. Und dass die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht einfach hingenommen, sondern hinterfragt werden. In den 1970er- und 1980er-Jahren entwickeln sich neue Formen, die als sperrig wahrgenommen werden. Es gibt mithin nicht ein Kriterium, oder zwei oder drei – sondern es ist zeitabhängig, welche Filme im jeweiligen Kontext als »anderes Kino« eingestuft werden.  

AH: Dabei war es uns bei der Auswahl wichtig, dass die Filme über die Gesellschaft nachdenken, in der sie entstanden sind – dass sie ihr Hier und Jetzt reflektieren. So wird zum Beispiel in ›Shirins Hochzeit‹ (1975) die Perspektive von Gastarbeiterinnen aufgenommen, während Haro Senft in ›Fegefeuer‹ (1971) neue ästhetische Formen wählte, um über Linksradikalismus und Terrorismus nachzudenken. Dazu zählen auch Filme, die übers Filmemachen selbst nachdenken, etwa über Förderstrukturen wie ›Der kleine Godard‹ (1978) von Hellmuth Costard, oder Ingemo Engströms ›Dark Spring‹ (1970) über die Frage »Wie machen Frauen Filme?«. 

Originalschauplätze und dokumentarische Elemente lassen oftmals an die Nouvelle Vague denken. Handelt es sich beim »anderen Kino« im Grunde um ein »armes Kino«, das aus der Not eine Tugend macht? 

RR: Dieses »arme Kino“ im Sinne einer »arte povera« betrifft vor allem die Filmemacherinnen, weil sie aus dem Filmgeschäft weitgehend ausgegrenzt waren. Sie mussten daher eigene Wege finden, um ihre Filme finanzieren zu können. Insofern ist es kein Zufall, dass in unserer Auswahl – statistisch gesehen – ein relativ hoher Anteil der Filme von Regisseurinnen stammt. Das französische Vorbild der Nouvelle Vague spielt sicher eine große Rolle. Aber die Entwicklungen in Polen oder der Tschechoslowakei sind ebenso wichtig. Dort wurden spielerische Formen entwickelt, und dies wurde wahrgenommen von denen, die sich sagten: Ich will nicht die Filme machen, die die anderen alle schon gemacht haben. Sondern ich will Filme machen, die von mir, von meiner Welt, von meinen Erfahrungen erzählen. Und dabei spielen die verschiedenen »Neuen Wellen« insgesamt eine große Rolle. 

Gibt es regionale Schwerpunkte in der Auswahl? Gab es besondere Zentren für ein »anderes Kino« in der Bundesrepublik? 

RR: Wir gehen in der Auswahl ja von unserem Bestand aus. Da die Kinemathek über Jahrzehnte eine von Berlin geförderte Institution war, hat sie sich stark um Berliner Belange gekümmert. Wir haben mittlerweile aber auch starke Bestände aus der Hamburger Szene, darunter Roland Klicks ›Supermarkt‹ (1974). Hier und bei Archivalien aus anderen Regionen sind allerdings noch längst nicht alle Filme digitalisiert. Wir haben aber in der Auswahl einen guten regionalen Querschnitt hergestellt. Auch unter Einbezug von Münchner Produktionen, die oft erzählerischer waren als die Berliner oder Hamburger. 

AH: Dabei gab es auch unerwartete Perspektiven. Der DDR-Kurzfilm ›Die Leuchtkraft der Ziege‹ (1988) und Helke Misselwitzs ›Herzsprung‹ (1992) führen in ein ländliches Setting, was eher selten vorkommt. Stark vertreten ist das urbane Milieu. Dabei dominiert das Berlin der 1980er-Jahre, das inzwischen ein popkultureller Mythos und damit besonders für ein jüngeres Publikum interessant geworden ist. ›Chapeau Claque‹ (1974) und ›Macumba‹ (1981) spielen zwar in Berlin, doch bilden ihre Schauplätze, ein verwildertes Eigenheim und ein Abbruchhaus, bei begrenzten finanziellen Mitteln ganz eigene filmische Dimensionen aus, die die Stadt Berlin hinter sich lassen. In die westdeutsche Provinz führen ›Die Deutschen und ihre Männer‹ (1989), nämlich nach Bonn, wo die Protagonistin einen Mann fürs Leben sucht – ausgerechnet im Politikermilieu der alten Bundesrepublik in deren letzten Zügen. Schlingensiefs ›Das deutsche Kettensägenmassaker‹ (1990) schlägt da auf ganz andere Weise in dieselbe Kerbe der bundesdeutschen Befindlichkeit. 

In der DDR unterstand die Filmproduktion staatlicher Lenkung. Dennoch habt ihr auch dort Beispiele für ein »anderes Kino« gefunden. Was hat es mit ihnen für eine Bewandtnis? 

RR: Die DEFA hatte wie jede große Filmfirma das Bestreben, das Unkonventionelle eher nicht zuzulassen. Alles, was nicht kontrollierbar erschien, war für die DEFA eine Herausforderung. Dennoch gibt es Filme, die davon abweichen. ›Denk bloß nicht, ich heule‹ etwa konnte nur in dem spezifischen Kontext des Jahres 1965/66 entstehen. Als nämlich das Gefühl vorhanden war, man könne über die eigene Gesellschaft kritische Filme machen – was die Arbeit von Frank Vogel dann zu einem der »Verbotsfilme« werden ließ. Nach dem Ende der DDR hat die DEFA ihr Geschäftsmodell geändert. Als absehbar war, dass es mit ihr als großer zentraler Filmproduktion zu Ende gehen würde, hat die neue Studioleitung Projekte unterstützt, die die ehemalige DEFA niemals angefasst hätte. Dazu zählen ›Banale Tage‹ (1991) von Peter Welz und ›Herzsprung‹ (1992) von Helke Misselwitz. Zur Ironie der Geschichte gehört allerdings, dass diese Filme zwar in der DDR ungeheure Aufmerksamkeit gefunden hätten, doch für das Publikum, das in den Jahren nach 1990 andere Probleme hatte, nicht mehr relevant gewesen sind. Die 1990er-Jahre gelten als das Jahrzehnt der Komödien. Damals hieß es: Lasst uns mit Experimenten in Ruhe! Das betrifft aber nicht nur die DEFA-Filme, sondern auch die westdeutschen Produktionen. 

AH: Es wird interessant sein, wie ein heutiges Publikum auf diese Filme schaut. Ich denke, es ist Zeit, sie wiederzuentdecken – insbesondere zwei Filme aus der Berliner Off-Szene: das Migrantendrama ›Kismet, Kismet‹ (1987) von Ismet Elçi und ›Jesus – Der Film‹ (1988), das kooperative Gesamtkunstwerk von Michael Brynntrup. Andererseits ist mit ›Nicht nichts ohne Dich‹ (1985) aber auch eine Komödie im Programm, die mehr als eine Empfehlung darstellt. Der Film von Pia Frankenberg ist unglaublich leicht, charmant und amüsant und eins meiner persönlichen Highlights. Ein Film mit einem Augenzwinkern, wie schon ihr Berlin-Film ›Nie wieder schlafen‹ (1992), der bei der Retrospektive 2019 die Wiederentdeckung war. 

In einer Retrospektive erwartet man kaum Premieren. Sind denn unter den Digitalisierungen welche, die bei der Berlinale erstmals zu sehen sein werden? 

RR: Mindestens zwei. ›Ich (1988), eine sehr witzige dffb-Produktion der Fotografin Bettina Flitner, und ›Unsichtbare Tage (1991) von Eva Hiller. Die Kamera bei ihrem Essayfilm führte Thomas Mauch und seine Bilder vom nächtlichen Frankfurt sind eine einzigartige, visuell berückende Erfahrung. 

AH: Auch die Restaurierung von ›Fegefeuer‹ zählt im Grunde dazu; sie wurde bisher nur zweimal gezeigt. Und wir können die neueste Digitalisierung von Will Trempers ›Die endlose Nacht‹ präsentieren, die eigens für die Berlinale hergestellt wurde. Ergänzt werden die 23 Filme der Retrospektive, zu denen wir zahlreiche Gäste erwarten, noch durch ein Streaming-Programm der Kinemathek, in dem seit dem 1. Februar weitere Filme des »anderen Kinos« zu sehen sind – unter anderem von Lothar Lambert, Helma Sanders-Brahms und Andreas Kleinert. So ergibt sich eine doch recht umfangreiche Auswahl. Und zugleich eine kleine, bedenkt man, dass der Filmbestand der Kinemathek rund 22.000 Titel umfasst. Davon stammen 17.000 aus dem Erbe der DEFA, aber auch die 4.300 Titel aus dem SDK-Bestand sind bemerkenswert. Nur dank der Tipps und Hinweise der Kolleginnen und Kollegen aus dem Filmarchiv konnten wir in diesem Maße fündig werden. 

Annika Haupts

Filme schaut sie nicht nur privat, sondern auch für die filmhistorischen Sektionen der Berlinale, deren Retrospektive in der Deutschen Kinemathek sie als Programmkoordinatorin betreut. Als Ausgleich für die Beschäftigung mit dem nationalsozialistischen Spielfilm im Rahmen ihrer Doktorarbeit, forscht die passionierte Turnschuhträgerin auch zum Thema Sneaker im Film.

Rainer Rother

Vom Studium der Geschichte zum Künstlerischen Leiter der Deutschen Kinemathek und des filmhistorischen Programms der Berlinale – ihn rufen Regisseur*innen an, wenn sie etwas über ihr Frühwerk wissen wollen.