Erinnern und entdecken – die Retrospektive als cineastisches Gedächtnis der Berlinale
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Eine »behagliche Nische des kleinbürgerlichen Kinoidylls«: im Foyer Seniorenpublikum, dem »Teppichhändler der Nostalgie« mit »handkolorierten Fanpostkarten und selbstgestochenen Radierungen von Marlene« auflauern. Der Filmpublizist Karsten Witte hielt sich 1978 anlässlich der Marlene-Dietrich-Retrospektive mit Häme nicht zurück. Gerade erst ein Jahr zuvor hatte die Deutsche Kinemathek es übernommen, das filmhistorische Programm der Berlinale im Westberliner Ku’damm-Kino Astor zu organisieren, und schon blies ihr der Zeitgeist kräftig ins Gesicht.
Retrospektiven sind heute Bestandteil vieler Filmfestivals. Die Berlinale ging hier vorbildlich voran und präsentierte seit ihrer Gründung 1951 Rückschauen auf das internationale Filmerbe, das Lebenswerk herausragender Filmschaffender, filmhistorisch bedeutende Epochen und zu Unrecht übergangener Akteur*innen. Hinter dem Thema »Deutsche Künstler im ausländischen Film« verbarg sich 1957 eine frühe Beschäftigung mit dem Filmexil, die von Peter B. Schumann gestalteten Retrospektiven zum brasilianischen »Cinema Nôvo« (1966) und zum Werk Ernst Lubitschs (1967/68) leisteten Pionierarbeit und Günter Knorrs bahnbrechende Recherche zu vergessenen deutschen Kurzspielfilmen der Jahre 1929 bis 1940 (1975/76) mündete in ein noch heute unverzichtbares filmhistorisches Standardwerk.
Die Retrospektiven der Deutschen Kinemathek setzten ab 1977 noch einmal neue Maßstäbe – nicht zuletzt mit einer übereinstimmenden grafischen Gestaltung von Plakat und Publikation. Sie gehen immer wieder über den Blick auf einzelne Personen hinaus, nehmen ungewohnte Perspektiven ein und erschließen neue Themenfelder – etwa »Künstliche Menschen« (2000), »Ästhetik der Schatten« (2014), »Weimarer Kino – neu gesehen« (2018) oder »Selbstbestimmt. Perspektiven von Filmemacherinnen« (2019). Die begleitenden Publikationen mit ihren filmhistorischen Analysen, Interviews und umfangreichen Materialsammlungen sprechen den Filmfan wie das Fachpublikum gleichermaßen an und unterstreichen Attraktivität und Renommee der Retrospektiven.
Als sich 1983 die Retrospektive unter dem Titel »Exil« sechs von den Nationalsozialisten vertriebenen Schauspieler*innen widmete, reiste im Vorfeld der Kinematheks-Mitarbeiter Gero Gandert zum Interview mit Dolly Haas nach New York und wurde so zum transatlantischen Brückenbauer: Die Emigrantin folgte der Berliner Einladung zur Retrospektive und führte vor Publikum ein Gespräch mit ihrer Kollegin Hertha Thiele – moderiert vom einstigen Retrospektive-Kritiker Karsten Witte.