Die Revolution der Filmmontage
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Es ist heute kaum vorstellbar: Bis 1924 war es nicht möglich, bei der Montage im Schneideraum Filmbilder in Bewegung und vergrößert zu betrachten. Für das Auffinden der besten Stelle bei einem Schnitt wurde also der Film durch die Hand gezogen und einfach gegen das Licht gehalten. Ein Maßband mit Markierungen für die Filmsekunden half bei der Ermittlung der Szenenlänge. Und lediglich eine Lupe diente als Hilfsmittel, kleinste Bewegungen auf dem Filmbildchen zu erkennen!
Diese Einschränkung wurde erst 1924 durch die Erfindung des Kinoskops beendet: Mit seiner Hilfe konnte nun das Filmbild in Bewegung und vergrößert betrachtet werden. Geschaffen haben das kleine Wunderwerk der Physiker Dr. Nikolaus Moritz Lyon und der Ethnologe Dr. Odo Deodatus Tauern. Sie gründeten 1921 die feinmechanischen Werkstätten Apparatebau Freiburg GmbH, bald bekannt als Lyta-Kino-Werke. Der Firmenname wurde abgeleitet aus den Abkürzungen der Inhaber Lyon und Tauern. Mit Beginn des Tonfilm-Zeitalters änderte man den Namen schließlich in Lytax um. Anfänglich entwickelte man hier in enger Zusammenarbeit mit dem Regisseur Arnold Fanck, dem Begründer des Bergfilm-Genres, eine 35mm Filmkamera mit permanentem Reflexsucher, auf Fancks Anregungen hin bald aber auch Hilfsgeräte für den Filmschnitt.
Der erste Horizontal-Umrolltisch, der die Montage der Filme erleichtern sollte, kam 1923 auf den Markt. Zwei Handkurbeln drehten jeweils einen Teller, eine per Fußpedal ausgelöste Bremsvorrichtung hielt diese an. Der Tisch besaß bereits eine hinterleuchtete Glasrückwand für das Sortieren einzelner Filmstreifen, hatte aber noch kein Bildbetrachtungsgerät.
Im März 1924 ließen sich die Lyta-Werke das Kinoskop patentieren – ein Betrachtungsgerät, mit dem der Film schonend durch eine fest eingebaute Lupe aufrechtstehend betrachtet werden konnte. Eine gezahnte Filmrolle übertrug die Bewegung des kontinuierlich durchlaufenden Filmes an eine sich drehende Flügelblende, die wie ein Stroboskop das »Stehen« des Bildes erreichte. Das war zwar mit einem starken Bildflackern verbunden, aber zum ersten Mal konnte das Filmbild im Fluss und vergrößert betrachtet werden.
Das Kinoskop wurde anfangs nur als eigenständiges, transportables Gerät verkauft. Ab Herbst 1924 kombinierte man es dann mit dem bewährten Umrolltisch und schuf so den weltweit ersten Horizontal-Schneidetisch, den Lyta-Universal-Arbeitstisch. Das Kinoskop konnte bei Bedarf im Tisch versenkt werden, ein cleverer Mechanismus, der von den damals verbreiteten Nähmaschinen-Tischchen bekannt war. Die Abdeckung für das versenkte Kinoskop diente im aufgeklappten Zustand als Halter für das Manuskript, im geschlossenen Zustand kam ein auf ihrer Rückseite montiertes Filmzählwerk zum Einsatz.
Ihren eigenen Lyta-Universal-Arbeitstisch erhielt die Kinemathek 1989 aus dem Nachlass von Dr. Hans Cürlis. Dr. Cürlis hatte 1919 in Berlin die Kulturfilm-Institut GmbH gegründet und ab 1923 mit dem Zyklus ›Schaffende Hände‹ begonnen, Porträts von Bildhauern, Malern und Karikaturisten bei ihrer Arbeit filmisch zu dokumentieren. Auf diesem Schneidetisch sind einige seiner Dokumentationen geschnitten worden.
Der Tisch war infolge eines Kurzschlusses nicht mehr funktionsfähig und stand jahrzehntelang ungenutzt im Keller. Bei der Übernahme von nicht mehr benötigtem Kamera-Equipment aus dem Besitz der Familie Cürlis wurde der Tisch nebenbei erwähnt: Er könne gerne mitgenommen werden, ansonsten würde man ihn entsorgen.
Natürlich wurde der Schneidetisch übernommen! Allerdings war damals seine große Bedeutung für die Filmmontage noch nicht bekannt. Das änderte sich erst 2018 durch Recherchen, als er für die Ausstellung »Kino der Moderne« aufgearbeitet wurde. Heute ist er wieder fast voll funktionsfähig, lediglich das fehlende Fußpedal für die Bedienung der Tellerbremsen muss noch ergänzt werden. Dann könnte an ihm präzise nachvollzogen werden, wie Mitte der 1920er Jahren Filme montiert wurden – und die Filmmontage revolutioniert wurde.