Das verborgene Erbe des Reichsfilmarchivs

Inhalt

Die folgende Geschichte begann vor über 25 Jahren, als mir der Medienwissenschaftler Rembert Hüser 1997 eine Forschungsfrage zu Frank Hensel stellte. Ausgerechnet zu jenem Frank Hensel, mit dem auch ich erst jüngst begonnen hatte, mich zu beschäftigen. Als Redakteur der Deutschen Kinemathek nahm ich zu dieser Zeit behutsam Anlauf, die Geschichte des eigenen Hauses, speziell seines Gründervaters Gerhard Lamprecht, und die der Filmarchive im Land zu ergründen. Daraus entstand 2013 zum 50-jährigen Bestehen des Hauses der Band ›Mosaikarbeit. Gerhard Lamprecht und die Welt der Filmarchive‹.

Ich wusste: Ein sehr wichtiges Archiv gab es bereits seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr: das Reichsfilmarchiv. Wenngleich auch Teile seiner Bestände in anderen Archiven weltweit lagerten. Von den Nationalsozialisten war es 1934 als eine Art Klientel-Archiv in Berlin gegründet worden. Bis dahin hatten nur einige närrische Einzelgänger das damals mehrheitlich feuergefährliche Filmmaterial gesammelt. Nun war diese Unschuld dahin, international kam System in die Sache. Zusammen mit dem Reichsfilmarchiv gründeten 1938 das British Film Institute, die Cinémathèque Franςaise und das Museum of Modern Art die internationale Vereinigung der Filmarchive (FIAF) – sie existiert noch heute. 

Frank Hensel (1893–1972) leitete seit 1935 diese Einrichtung und war in der FIAF hochaktiv. Wohl nicht zuletzt seine schwer durchschaubare Persönlichkeit – Fotograf, Autorennfahrer, NSDAP-Mitglied, SS-Obersturmbannführer, NS-Cineast und Teil des Sicherheitsdienstes im »Reichssicherheitshauptamt« (unter Reinhard Heydrich) – hatten ihn in die Literatur eingehen lassen. Jerome Charyns ›Movieland‹ (1989) und Georg Stefan Trollers ›Personenbeschreibung‹ (1990) würdigen ihn in Vignetten. Sein zerrissenes Leben versuchte ich nachzuzeichnen und ging auf Personensuche, sprach mit seinem Schwiegersohn, korrespondierte mit Hans Barkhausen (1906–1999), einem ehemaligen Mitarbeiter des Reichsfilmarchivs, und ließ mir von der Filmvermittlerin Eva M.J. Schmid ihre inoffiziellen Besuche im Archiv schildern, wo sie als Studentin unter anderem in NS-Deutschland verbotene Filme sah. 

Der ›Film-Dienst‹ veröffentlichte 2001 mein erstes Porträt von Hensel, das ›Journal of Film Preservation‹ der FIAF druckte es ein Jahr später auf Englisch nach. Inzwischen nutzte unsere ehemalige Kollegin Eva Orbanz, damals Präsidentin der FIAF, ihre Kontakte nach Russland, um unbekannte private Aufnahmen vom sogenannten »PK-Archiv« (ein Teil des Reichsfilmarchivs) und von den Bauarbeiten des Filmlagers in Babelsberg 1939/40 auf VHS-Kassette zu entleihen. Noch heute lagern nahe Moskau Filme als Beutegut der Roten Armee. Das bayerische Filmlager in Harthausen unweit von München, in dem noch nach Kriegsende weitere Archivalien aus dem Reichsfilmarchiv lagerten, nahm ich 2015 – durchaus fasziniert – in Augenschein. In diesem Jahr veröffentlichte die Kinemathek zusammen mit Kooperationspartnern den Sammelband ›Wie der Film unsterblich wurde‹, in dem zwei Texte auch die Forschungen zum Reichsfilmarchiv vorantrieben.

Seit etwa 2008 stehe ich in Verbindung zu einer Familie, die über den einzig bekannten Nachlass Hensels verfügte. Nach langen Jahren konnte die Kinemathek dieses Material 2022 ebenso übernehmen wie ein Konvolut aus dem Besitz des Nachfolgers von Hensel als Archivleiter – Richard Quaas (1905–1989). Es besteht in erster Linie aus Alltagsfotos der Archivarbeit und der jahrzehntelangen Korrespondenz zwischen Hans Barkhausen und Quaas. Auch er war ein frühes NSDAP-Mitglied, verstand seine Rolle jedoch anders, suchte weniger die Öffentlichkeit und sorgte für eine Professionalisierung der Arbeit. Quaas' Sohn war und ist an der Arbeit der Kinemathek sehr interessiert. 

 

Noch bevor er uns das Material seines Vaters übergab, gehörte er zu den Leihgebern unserer 2019 eröffneten Ausstellung »Brandspuren. Filmplakate aus dem Salzstock«. Ihr visuelles Zentrum bildeten Filmaufnahmen von mehreren Einfahrten in das Bergwerk Grasleben (bei Helmstedt), aus dem Zensurobjekte des Reichsfilmarchivs durch die Kinemathek geborgen wurden. Nicht zuletzt aus diesen Aufnahmen entstand die abendfüllende Dokumentation von Heinrich Adolf ›Das Reichsfilmarchiv – Geschichte einer deutschen Institution‹, die seit 2021 in einigen Kinos gezeigt wurde.

An mehreren Stellen unseres Hauses finden sich inhaltliche Verbindungen zum Reichsfilmarchiv, so verfügt etwa die Bibliothek über dessen seltene Kataloge. Inzwischen kann die Kinemathek der Öffentlichkeit deutlich substanziellere Forschungsangebote zum Reichsfilmarchiv als noch im Jahr 1997 offerieren.

Rolf Aurich

wuchs mit Schulfilmen der 1940er- und 1950er-Jahre auf und ging während des Studiums täglich ins Kino, wo er sich alsbald als Kartenabreißer ein Zubrot verdiente. Die Herausgabe einer nichtkommerziellen Filmzeitschrift bildete die Grundlage für vieles, was später kam, auch für die Arbeit als wissenschaftlicher Redakteur an der Kinemathek.