»Cinema Disrupted« – Marlene Dietrich beim Filmfestival in Bologna

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Femme fatale, queere Stilikone, Leinwandgöttin: Stars wie Madonna, Freddy Mercury oder Lady Gaga ließen sich von Marlene Dietrich inspirieren und schillernde Drag-Queens imitieren sie bis heute. Was macht Marlene Dietrich unsterblich?

Es scheint vor allem das Moment der Störung, der Irritation und Provokation zu sein, das die Dietrich auszeichnet und sie auch heute noch für viele Menschen zum Vorbild macht. Sie scheute sich nicht, Filmindustrie und Gesellschaft herauszufordern – als couragierter Freigeist und bisexueller Star in androgynen Outfits, als Mode- und Stilikone, die auch im Alter noch mit ihren Reizen spielte, als Schauspielerin, die politisch Stellung bezog für Freiheit, Toleranz und Demokratie. Marlene Dietrich unterlief Rollen-, Alters- und Genderzuschreibungen und erschuf ihre eigene Persona. Die Retrospektive auf dem Filmfest »Il Cinema Ritrovato« bietet die Gelegenheit, sie als eine disruptive Kraft der Kinogeschichte neu- und wieder zu entdecken.

Ein Star privat

In Bologna ist eine Premiere der besonderen Art zu erleben: Erstmals werden Marlene Dietrichs Privataufnahmen, die sie zwischen 1932 und 1942 mit ihrer 16mm-Cine-Kodak-Kamera aufnahm, öffentlich auf einem Festival gezeigt. Bei den Home Movies, die in der Marlene Dietrich Collection Berlin der Kinemathek (MDCB) verwahrt werden, handelt es sich fast durchgehend um Farbaufnahmen in einem guten Erhaltungszustand. Eine erste Zusammenstellung vermittelt den Eindruck eines Making-of und zeigt den Star am Set, in den Drehpausen und auf dem Studiogelände. Einige Einstellungen hat Marlene Dietrich selbst gedreht, für andere reichte sie ihre Handkamera weiter. Die zweite Kompilation zeigt ihre Familie, sowie einige ihrer Friends und Lovers im privaten Kreis und auf Urlaubsreisen in Europa. Zu sehen sind unter anderem Douglas Fairbanks Jr., Jean Gabin, Erich Maria Remarque und Josef von Sternberg, aber auch die lesbische Milliardärin Joe (Barbara) Carstairs, mit der Marlene Dietrich eine intensive Affäre verband. 2017 wurden die Aufnahmen mit Mitteln des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) restauriert und digitalisiert und sind nun erstmals auf einem Festival zu sehen.

Laszivität par excellence

Der Auftritt der Dietrich – ob auf der Leinwand oder der Bühne – bildet stets eine Zäsur. Ihre elegante Erscheinung und ihre akzentuierte Performance ziehen die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich. Der Kritiker Kurt Pinthus schwärmte schon in den 1920er-Jahren von der »Passivität ihres Sex-Appeals«, das It-Girl Ruth Landshoff-York im Rückblick von ihrer »geheimnisvoll lächelnden Überlegenheit«, Herbert Ihering von ihrem »sinnlichen Phlegma«. Der Regisseur Josef von Sternberg nutzte dies und etablierte den Star als geheimnisvolle Femme fatale. Mit einer nuancenreichen Ausleuchtung modellierte er ihr Gesicht mit den hohen Wangenknochen und ließ sie oft aus dem Dunkeln heraus agieren. Raffinierte Kostüme mit Schleiern und changierenden Texturen unterstrichen die mystische Inszenierung. 

Venus im Frack

Zu den offensichtlichen Provokationen der Dietrich gehörten ihre maskulinen Outfits, ihr Crossdressing. Hosen trug sie bereits in den 1920er-Jahren öffentlich und auch mit lesbischen Insignien wie Monokel, Schlips und Zylinder war sie schon vor ›Der blaue Engel‹ (D 1930, R: Josef von Sternberg) in Berliner Revuen aufgetreten. In ihrem Hollywood-Debüt ›Morocco‹ (US 1930, R: Josef von Sternberg) schrieb sie in Frack und Zylinder Filmgeschichte: Als Nachtclubsängerin Amy Jolly schlendert sie durch den Club, flirtet kurz mit einer Zuschauerin und drückt ihr einen Kuss auf die Lippen. Es ist der erste lesbische Kuss einer Hauptdarstellerin in einem Hollywood-Film und er machte Marlene Dietrich zur queeren Ikone – bis heute. In Männerkleidung trat sie auch in weiteren Spielfilmen auf, so in ›Blonde Venus‹ (US 1930, R: Josef von Sternberg) an der Seite von Cary Grant, und betörte später auch in ihren Bühnenshows mit androgynen Looks ein diverses Publikum.

Alterslust

Bereits mit 38 Jahren wurde Marlene Dietrich als »Kassengift« (box office poison) bezeichnet. Von Sternbergs Stils galt nun als manieriert, die Diva nicht mehr als zeitgemäß. Mit der Westernkomödie ›Destry Rides Again‹ (US 1939, R: George Marshall) erfand sich die Dietrich neu und sang, tanzte und prügelte sich gut gelaunt in die Publikumsgunst zurück. Doch auch bei den folgenden Projekten wurde von den Produktionsfirmen immer wieder gefragt, ob die Dietrich nicht zu alt für ihre Rolle sei. Dabei hatte sie das Geburtsjahr in ihrem Pass bereits um drei Jahre korrigiert. Befreundete Regisseure wie Billy Wilder (›A Foreign Affair‹, US 1948 und ›Witness for the Prosecution‹, US 1957) und Orson Welles (›Touch of Evil‹, 1958) nutzten dagegen ihre Lust an der Verwandlung. In ihren Bühnenshows trat Marlene Dietrich mit über sechzig noch in sexy Outfits auf und erweckte mit ihren Nude-Dresses den Eindruck, fast nackt auf der Bühne zu stehen.

Unabhängigkeit

Mut, moralische Integrität und Pflichtgefühl waren vielleicht die hervorstechenden Eigenschaften der Dietrich. Wie wichtig ihr zeitlebens ihre Autonomie war, belegen zwei Dokumentarfilme. In ›Her Own Song‹ (US/D 2001) ihres Enkels J. David Riva ist sie bei ihren Auftritten vor den US-amerikanischen Truppen während des Zweiten Weltkriegs zu sehen. Ihre Freude an der Interaktion mit dem Publikum und das Bewusstsein, einen wichtigen Beitrag im politischen Kampf beisteuern zu können, sind hier unmittelbar zu spüren. Maximilian Schells ›Marlene‹ (BRD 1984) präsentiert den alternden Star hingegen nur als Stimme. Die Diva hatte auf einer Tonaufnahme bestanden, reklamierte mit über achtzig Jahren die Hoheit über ihr Bild und kommentierte ihr Lebenswerk mit teils schroffen Kommentaren. Diese disruptive Kraft hat sie bis zuletzt nicht verloren.

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Autor

Kristina Jaspers

Die studierte Kunsthistorikerin und Philosophin beschäftigt sich nicht nur mit Filmgeschichte, sondern auch mit dem anhaltenden Science-Fiction-Boom. Als Kuratorin sorgte sie dafür, dass Storyboards museumsfähig und Frauen hinter der Kamera ins Scheinwerferlicht befördert wurden.