»Am Anfang war der Blick, danach kam das Wort, dann das Bild. Und aus dem Filmseher wurde der Filmbeschreiber und aus dem Filmbeschreiber der Filmregisseur. Das Sehen setzte Maßstäbe, die zur Syntax drängten, und alles Geschriebene wollte Bild werden. Für den Blick wiederum anderer«. So Peter W. Jansen in einem Augen öffnenden Essay über Theodor Kotulla, der in diesem ersten Buch über den Regisseur erschienen ist.
Theodor Kotulla begann – nach dem Studium der Publizistik und Philosophie – als Filmkritiker. Zunächst in Münster. Von 1957 bis 1968 war er einer der Autoren der Zeitschrift ›Filmkritik‹, die in den sechziger Jahren zur wegweisenden filmpublizistischen Kraft in der Bundesrepublik Deutschland wurde. Kotullas Aufsätze und Kritiken atmen den Geist der Aufklärung, woran die unmittelbar vergangene deutsche Geschichte einen beträchtlichen Anteil hat. Geboren wurde Kotulla 1928 im oberschlesischen Königshütte, dem heutigen Chorzów, unweit von Auschwitz gelegen. 1946 kam er mit seinen Eltern nach Westdeutschland. Durch die Schriften von Horkheimer, Adorno, Benjamin, Kracauer und Eisenstein war er – nach eigener Aussage – mehr geprägt als durch seine akademischen Lehrkräfte. Ein Intellektueller, dessen politische Überzeugungen ihn nicht zur Ideologie verführten, sondern zu leidenschaftlich vorgetragener nüchterner Analyse. Anfang der Sechziger begann Kotulla mit dem Schreiben von Drehbüchern und realisierte erste Fernsehdokumentationen, darunter mit ›Zum Beispiel Bresson‹ (1966/67) eine Beobachtung des französischen Regisseurs bei den Dreharbeiten zu dessen Film ›Mouchette‹. 1967/68 wagte er dann mit den Kurzspielfilmen ›Panek‹ und ›Vor dem Feind‹ endgültig den »Sprung auf die andere Seite« – vom Schreiben über Filme zum Machen von Filmen. Immer wieder thematisiert er in seinem filmischen Œuvre bürgerliche Verhaltensformen und -normen, befragt sie nach ihrem Wahrheitsgehalt und nach ihren Deformationen. In ›Bis zum Happy-End‹ (1968) entwirft er mit dem Blick aufs Private ein Bild der Bundesrepublik Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre, in ›Ohne Nachsicht‹ (1971) fängt er das Lebensgefühl junger Leute, pendelnd zwischen Revolution und Resignation, in der bundesdeutschen Provinz nach 1968 ein, in ›Der Angriff‹ (1986/87) thematisiert er die latente Gewaltbereitschaft, die sich hinter bürgerlicher Fassade verbirgt. In seinem Film ›Aus einem deutschen Leben‹ (1977) rekonstruiert Kotulla den Lebenslauf von Rudolf Höß, dem Kommandanten des Vernichtungslagers Auschwitz – bis heute eine der eindringlichsten filmischen Analysen der Mechanismen des Genozids an den Jüdinnen und Juden Europas. Kotullas aufwändige Adaptation des Romans ›Der Fall Maurizius‹ nach Jakob Wassermann entstand als Fünfteiler 1980 im Auftrag des Zweiten Deutschen Fernsehens und kann als eines seiner ambitioniertesten Vorhaben gelten. Detailliert, präzise und weniger emotional als Julien Duvivier in den fünfziger Jahren hat er Wassermanns Anklage gegen Rechtsmissbrauch und menschliches Versagen inszeniert. Neben der Beschäftigung mit Filmen war Kotulla leidenschaftlicher Jazzliebhaber; gelegentlich rezensierte er Schallplatten, als Regisseur porträtierte er 1972 die Free-Jazzer Marion Brown, Leo Smith und andere in seinem Film ›See the Music‹. Nach langer Krankheit starb Theodor Kotulla 2001 in München. Mit seinen Filmen wie auch mit seinen filmkritischen Texten war er ein manchmal umstrittener, auch verkannter, immer aber streitbarer Autor und Regisseur des deutschen Films. Ein Individualist, der deutsche Geschichte und Gegenwart gleichermaßen im Blick hatte, offen und kritisch.
Mit Texten von Theodor Kotulla und Aufsätzen von Peter W. Jansen und Heinz Ungureit sowie einer Filmobibliografie von Ulrich Döge. Das Buch erscheint als erster Band einer neuen Reihe mit dem Titel ›Film & Schrift‹, herausgegeben von Rolf Aurich und Wolfgang Jacobsen für die Deutsche Kinemathek in der Edition Text + Kritik (München). ›Film & Schrift‹ wird Filmgeschichte und Filmpublizistik verknüpfen und die Frage nach Filmen als zeitgeschichtlicher Quelle akzentuieren. ›Film & Schrift‹ interessiert sich für die Autor*innen hinter den Wörtern und Bildern, wird heute unbekannte Filmpublizist*innen neu entdecken und begreift Filmkritik auch als literarische Gattung. So entsteht im Laufe der Zeit eine Geschichte der deutschsprachigen Filmkritik in Einzelstudien.