Das andere Kino – Aus dem Archiv der Deutschen Kinemathek
Entdecken Sie herausragende Werke jenseits des Kanons aus den Beständen der Kinemathek!
Retrospektive der 74. Internationalen Filmfestspiele Berlin
Die Retrospektive der Internationalen Filmfestspiele Berlin feiert 2024 unangepasste Protagonist*innen, eigenwillige Filmsprachen und unkonventionelle Produktionen der deutschen Filmgeschichte jenseits des Kanons. Die 23 Filme aus dem Zeitraum zwischen 1960 und 2000 kommen aus den Beständen der Deutschen Kinemathek, wobei ein Großteil in der neuesten restaurierten Fassung gezeigt wird.
Mit dem weltweiten Aufkommen der jungen Filmbewegungen in den 1960er-Jahren probieren sich auch in Deutschland neue Akteur*innen auf verschiedenste Weise aus. Über den Wunsch nach einer persönlichen Zukunft abseits gesellschaftlicher Konformität wird in den Filmen der Retrospektive ebenso nachgedacht wie über das Verhältnis von Gesellschaft und Individuum. Diese Werke abseits der Mainstream-Produktionen bieten andere Bilder des Landes und der Menschen an, erzählen eine andere, erweiterte Geschichte. Ihre Erzählungen sind verortet im Hier und Jetzt und visualisieren in zum Teil experimentellen Bildern gesellschaftliche Gegenentwürfe.
Die unkonventionelle, eigenständige Filmsprache der Retrospektive-Auswahl ist bezeichnend: mal distanziert-beobachtend oder opulent-ausgestellt, mal spielerisch-selbstironisch oder subjektiv-reflektierend. Die Filmauswahl der Retrospektive »Das andere Kino« lädt dazu ein, die Vielstimmigkeit dieser breit gefächerten, kongenial filmisch umgesetzten Erfahrungswelten neu zu entdecken.
Veranstaltungen
Die Filme der Retrospektive
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Banale Tage
D 1991, Regie: Peter Welz
Mit: Christian Kuchenbuch, Florian Lukas, Kurt Naumann, Jörg Panknin
Zwei Ostberliner Jugendliche rebellieren in den 1970er-Jahren gegen die allgegenwärtige Bevormundung. Für ihre Abrechnung mit dem Alltags- und Kulturleben in der DDR erprobte die Filmgroteske aus dem Umfeld der Berliner Volksbühne eine neue Filmsprache.
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Chapeau Claque
BRD 1974, Regie: Ulrich Schamoni
Mit: Ulrich Schamoni, Anna Henkel, Jürgen Barz, Peter Ehlebracht
Ein pleitegegangener Jungunternehmer nimmt das Versprechen »Freizeitgesellschaft« ernst. In seiner kunstvoll verwilderten Stadtrand-Villa genießt und propagiert er das »Recht auf Faulheit«. Eine schöne, frivole Sommeretüde mit satirischen Seitenhieben.
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Dark Spring
BRD 1970, Regie: Ingemo Engström
Mit: Edda Köchl, Ilona Schult, Irene Wittek, Klara Zet
Im Verlauf eines fiktiven Roadmovies sprechen altersgleiche Frauen aus dem Bekanntenkreis der Regisseurin über Paarbeziehungen und Liebesutopien. Die Abschlussarbeit an der Münchner Filmhochschule war eine frühe Bestandsaufnahme feministischer Positionen.
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Das deutsche Kettensägenmassaker
D 1990, Regie: Christoph Schlingensief
Mit: Karina Fallenstein, Brigitte Kausch(-Kuhlbrodt), Susanne Bredehöft, Volker Spengler
Nach der Wiedervereinigung werden ehemalige DDR-Bürger im Westen von einer kannibalischen Metzgerfamilie niedergemetzelt. Der satirische Horrorfilm war ein grellbunter und bluttriefender Kommentar zur Einverleibung der »Brüder und Schwestern von drüben«.
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Denk bloß nicht, ich heule
DDR 1965/1990, Regie: Frank Vogel
Mit: Peter Reusse, Anne-Kathrein Kretzschmar, Hans Hardt-Hardtloff, Jutta Hoffmann
In der Klassikerstadt Weimar legt sich ein bekennender »Halbstarker« mit Autoritäten in Schule, Staat und Partei an und wird darüber zum ausgegrenzten Außenseiter in der DDR. Das provokante Coming-of-Age-Drama wurde verboten und erst 1990 uraufgeführt.
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Der kleine Godard. An das Kuratorium Junger Deutscher Film
BRD 1978, Regie: Hellmuth Costard
Mit: Hellmuth Costard, Marie-Luise Scherer, Jean-Luc Godard, Hark Bohm
Der mit einem ausgetüftelten Super-8-System gedrehte experimentelle Dokumentarfilm zeigt, unter welchen Prämissen Filme etwa von R. W. Fassbinder oder Hark Bohm in Deutschland entstehen – und im Fall des Avantgardefilmers Jean-Luc Godard eben nicht.
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Die Deutschen und ihre Männer – Bericht aus Bonn
BRD 1989, Regie: Helke Sander
Mit: Renée Felden, Luise F. Pusch, Claudia von Alemann, Helke Sander
Auf der Suche nach einem geeigneten Mann befragt »Lieschen Müller« in der Bundeshauptstadt Bonn Politiker und Passanten nach ihrem männlichen Selbstverständnis. Auch Männergewalt umfasst der peinigende Fragenkatalog dieses satirischen Dokumentarfilms.
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Die endlose Nacht
BRD 1963, Regie: Will Tremper
Mit: Karin Hübner, Harald Leipnitz, Louise Martini, Paul Esser, Wolfgang Spier
Ein gutes Dutzend Passagiere sitzt wegen Nebels für eine Nacht auf dem Berliner Flughafen Tempelhof fest. Eine Collage ihrer Begegnungen und Gespräche verdichtet der größtenteils improvisierte Ensemblefilm zum wirklichkeitsnahen Gesellschaftsporträt.
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Engel aus Eisen
BRD 1980, Regie: Thomas Brasch
Mit: Hilmar Thate, Katharina Thalbach, Ulrich Wesselmann, Karin Baal
Während der Berlin-Blockade 1948 begeht eine Jugendbande schwere Raubüberfälle, bei denen sich ihr Anführer als neuer »Al Capone« inszeniert. Ein schwarz-weißer Film noir des einstigen DDR-Autors Thomas Brasch über eine lebenshungrige Kriegsgeneration.
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Fegefeuer
BRD 1971, Regie: Haro Senft
Mit: Jost Vobeck, Ingeborg Schöner, Paul Albert Krumm, András Gönczöl
Nachdem er Zeuge einer Entführung geworden ist, beteiligt sich ein junger Münchner an der Befreiung des Entführten. Seine Parteinahme lässt ihn schuldig werden, wofür er sich im Verhör rechtfertigen soll. Ein Psychothriller mit politischem Hintergrund.
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Herzsprung
D 1992, Regie: Helke Misselwitz
Mit: Claudia Geisler-Bading, Günter Lamprecht, Eva-Maria Hagen, Nino Sandow
Nach der Wiedervereinigung wird eine junge Frau in Brandenburg Opfer der ökonomischen Krise und Ziel fremdenfeindlicher Aggression. Eine verdichtete Darstellung des sozialen Umbruchs in Ostdeutschland – aktuell, authentisch und poetisch zugleich.
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Ich
BRD 1988, Regie: Bettina Flitner
Mit: Bettina Flitner, Hella von Sinnen
Eine Persiflage auf den Geniekult um berühmte Filmregisseure. Bettina Flitner spielt das befragte und bei seiner Arbeit beobachtete Junggenie, Hella von Sinnen besticht in verschiedenen Rollen als Mutter, Tante, Schuldirektorin und als Schauspielerin.
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Im Land meiner Eltern
BRD 1981, Regie: Jeanine Meerapfel
Mit: Anna Levine, Luc Bondy, Meier Breslav, Eva Ebner
1981 befragte Jeanine Meerapfel in Westberlin lebende Jüdinnen und Juden zu ihren Heimatgefühlen und Ängsten. Gemein ist allen, dass sie Kinder exilierter und verfolgter Eltern sind. Was sie erzählen, ist von alarmierender Aktualität.
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Jesus – Der Film
BRD 1985, Regie: Michael Brynntrup
Mit: Michael Brynntrup, Panterah Countess, Michael Wehmeyer, Stiletto
Der »Monumentalfilm über den Lebens- und Leidensweg unseres Herrn Jesus Christus« entstand als Gruppenproduktion im Super-8-Format. Eine freigeistige Bibeladaption aus der Queer-, Punk- und Avantgarde-Szene, provokant und in expressionistischer Tradition.
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Kismet, Kismet
BRD 1987, Regie: Ismet Elçi
Mit: Ismet Elçi, Alisan Keziban, Wieland Speck, Lothar Lambert
Ein junger Türke setzt beim Versuch, Filmregisseur zu werden, seine Existenz aufs Spiel, während sein bester Freund in Prostitution und Kriminalität abrutscht. Eine Berliner Low-Budget-Produktion, angesiedelt zwischen Anatolien und Underground.
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Leuchtkraft der Ziege – Eine Naturerscheinung
DDR 1988, Regie: Jochen Kraußer
Dokumentarische Form
Die Geschichte eines jungen Freizeitfilmers, der die Dreharbeiten einer Amateurfilmgruppe zu einem Dorfkrimi filmisch festhält. Eine surrealistische Persiflage, die ironisch und subversiv mit den Konventionen des Kinos und der bildenden Künste spielt.
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Macumba
BRD 1982, Regie: Elfi Mikesch
Mit: Magdalena Montezuma, Bernd Broaderup, Heinz Emigholz, Fritz Mikesch
In einem Abrisshaus stößt ein Amateurdetektiv auf vier lethargische Menschen, die ihm fremd und feindlich erscheinen. In (alb-)traumähnlichen Situationen lösen sich Sinnzusammenhänge auf. Magie greift um sich in einem expressionistischen Experimentalfilm.
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Nicht nichts ohne dich
BRD 1985, Regie: Pia Frankenberg
Mit: Klaus Bueb, Pia Frankenberg, Adeline Almeida-Sedas, Thomas Struck
Alltagsabenteuer einer Filmemacherin zwischen sozialem Engagement und amourösen Fallstricken. Pia Frankenberg gelingt eine geistreiche Alternative zu den populären Beziehungskomödien der 1980er-Jahre, deren Lebensgefühl ihr Debütfilm ironisch reflektiert.
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Shirins Hochzeit
BRD 1976, Regie: Helma Sanders-Brahms
Mit: Ayten Erten, Jürgen Prochnow, Aras Ören, Jannis Kyriakidis
Eine junge Türkin, die als »Gastarbeiterin« auf die Wiederbegegnung mit ihrem verschollenen Verlobten hofft, gerät in Abhängigkeit von einem deutschen Zuhälter. Das sozialrealistische Drama klagte 1976 Männergewalt und Rechtlosigkeit von Migrantinnen an.
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Supermarkt
BRD 1974, Regie: Roland Klick
Mit: Charly Wierczejewski, Eva Mattes, Michael Degen, Walter Kohut
Um seiner Freundin, einer Prostituierten, aus dem St.-Pauli-Milieu herauszuhelfen, lässt sich ein jugendlicher Kleinkrimineller auf einen bewaffneten Raubüberfall ein. Doch in dem rauen und actionreichen Sozialdrama sind am Ende alle Verlierer.
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Tobby
BRD 1961, Regie: Hansjürgen Pohland
Mit: Tobias (Tobby) Fichelscher, Anik Fichelscher, Ed Fichelscher, Danny Fichelscher
Ein junger Jazzmusiker lässt sich durch Berlin treiben, trifft Bekannte und spielt bei Sessions mit. Der dokumentarische Spielfilm zeichnet ein avanciertes Porträt des Berliner Westens und einer urbanen künstlerischen Boheme in den frühen 1960er-Jahren.
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Unsichtbare Tage oder Die Legende von den weißen Krokodilen
D 1991, Regie: Eva Hiller
Mit: Renan Demirkan (Sprecherin)
Eine Großstadt unter künstlicher Beleuchtung: Der Essayfilm erhellt die nächtlichen Lebensadern von Frankfurt am Main und Berlin. Kritisch reflektiert die Regisseurin eine urbane »Herrschaft des Lichts« und enthüllt dabei Schattenseiten der Moderne.
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Zwei unter Millionen
BRD 1961, Regie: Victor Vicas, Wieland Liebske
Mit: Hardy Krüger, Loni von Friedl, Walter Giller, Joseph Offenbach
Kurz vor dem Bau der Berliner Mauer glaubt ein junger Arbeiter sein privates wie berufliches Glück als Kneipier im Westteil der Stadt zu finden. Eine realistische Liebesgeschichte im Wirtschaftswunder, dessen gleißende Versprechungen sich nicht erfüllen.
Das Team der Retrospektive
Das Team der Retrospektive
Leiter der Retrospektive, Künstlerischer Direktor der Deutschen Kinemathek: Rainer Rother
Auswahlkommission Retrospektive: Rainer Rother, Annika Haupts
Programmkoordination: Annika Haupts
Festivalkoordination: Anke Hartwig
Festivalmanagement: Christin Meyer
Presse: Silke Lehmann
Autor: Jörg Schöning
Redaktion: Julian Born
Übersetzung: Rebecca M. Stuart
Koordination Untertitelung: Noémie Causse
Kopienkoordination: Steffen Vogt