Berlinale Classics 2022
Wir bringen digital restaurierte Filmklassiker und Wiederentdeckungen zurück auf die große Leinwand.
Die Filme der Berlinale Classics
Brüder
Deutschland 1929, Regie: Werner Hochbaum
Hamburg 1896. Die Arbeit im Hafen ist hart und in der Arbeiterschaft brodelt es. Denn ihre Forderung nach einer Lohnerhöhung findet kein Gehör. Treffen und Versammlungen werden abgehalten, die Situation spitzt sich zu. Schließlich kommt es zum Streik. Dessen Folgen treffen den Anführer besonders hart, denn er lebt mit einer bettlägerigen Ehefrau, seiner alten Mutter und einer kleinen Tochter im Gängeviertel. Hier wird er am Weihnachtsabend verhaftet und steht auf der Polizeiwache seinem Bruder gegenüber: einem Wachtmeister, Repräsentanten des Klassenfeinds … Am Vorabend der Weltwirtschaftskrise erinnerte Werner Hochbaum mit seinem Rückblick auf die Niederlage des großen Hamburger Hafenarbeiterstreik an die sozialen Errungenschaften, die Gewerkschaften und Sozialdemokratie in der Weimarer Republik durchgesetzt hatten. Diese unterstützten Hochbaums Spielfilmdebüt, das auch dokumentarische Passagen enthält und an dessen Ende, wie auf dem Panzerkreuzer Potemkin, eine rot kolorierte Fahne im Winde flattert. – Weltpremiere der digital restaurierten Fassung mit neuer Musik von Martin Grütter, präsentiert von Mitgliedern der Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Raphael Haeger.
Kawaita hana
(›Pale Flower‹), Japan 1964, Regie: Masahiro Shinoda
Wegen eines Tötungsdelikts war Muraki in Haft. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis kehrt der Yakuza in sein altes Milieu zurück. In einem illegalen Club, wo beim Tehonbiki-Spiel hohe Summen gesetzt werden, trifft er auf eine geheimnisvolle junge Frau. Saeko scheut kein Risiko, denn noch mehr als am Geld liegt ihr am Nervenkitzel. Auf Saekos Bitte hin führt Muraki sie in einen noch exklusiveren Club. Während ihn tagsüber Menschen aus seiner Vergangenheit bedrängen, verfällt er nachts immer mehr dem Reiz der attraktiven Rennwagenfahrerin … Baudelaires ›Blumen des Bösen‹ mögen tatsächlich Pate gestanden haben bei diesem klassischen Film Noir, mit dem Masahiro Shinoda das Genre des Yakuza-Thrillers nachhaltig prägte. Ebenso lyrisch wie morbide verklärt ›Kawaita hana‹ das moderne Großstadtleben, das der Komponist Toru Takemitsu mit einem Cool-Jazz-Score untermalt. Mit seiner expressiven Hell-Dunkel-Malerei der ›Ästhetik des Schattens‹ verpflichtet, verdichtet sich der in Schwarz-weiß und Cinemascope gedrehte Film zum existenzialistischen Drama, in dem die Bandenrivalitäten des Plots vorübergehend in den Hintergrund treten. – Weltpremiere der digital restaurierten Fassung.
Mamma Roma
Italien 1962, Regie: Pier Paolo Pasolini
Die römische Prostituierte Mamma Roma will sich eine bürgerliche Existenz aufbauen und ihrem Sohn ein anständiges Leben ermöglichen. Sie zieht in ein besseres Viertel, holt ihn zu sich und eröffnet einen Gemüsestand. Doch im Wohnsilo der Vorstadt schließt sich der 16-jährige Ettore einer kleinkriminellen Jugendbande an und lässt sich mit einer älteren Nachbarin ein. Alle Versuche seiner Mutter, aus dem juvenilen ›Juwel‹ einen arbeitsamen jungen Mann zu machen, schlagen fehl. Als Mamma Romas ehemaliger Zuhälter auftaucht und sie erpresst, ist sie gezwungen, ihren Körper wieder auf der Straße zu verkaufen … Mit seinem zweiten, in seiner sozialen Analyse ganz dem Neorealismus verpflichteten Film beschwor Pier Paolo Pasolini Elend und Eros des italienischen Subproletariats. In eine christliche Ikonografie zwischen Abendmahl und Kreuzigung eingebettet, zeichnet ›Mamma Roma‹ den Passionsweg zweier gesellschaftlicher Außenseiter, der am Ende beide in Dantes ›Inferno‹ führt. Die Ausgestaltung der Titelrolle in einem authentisch agierenden Laienensemble zählt zu den großen Charakterdarstellungen von Anna Magnani, ›Roms römischster Römerin‹. – Weltpremiere der digital restaurierten Fassung.
Notre musique
(›Our Music‹), Schweiz/Frankreich 2004, Regie: Jean-Luc Godard
Zu den Referent*innen der Europäischen Buchmesse in Sarajevo 2004 gehört neben Literaten wie dem Spanier Juan Goytisolo und dem palästinensischen Poeten Mahmoud Darwisch auch der Filmregisseur Jean-Luc Godard. Am Rande der Veranstaltung befragen zwei Frauen die Gäste zu den Balkankriegen, deren Spuren in Sarajevo weiterhin sichtbar sind, zum israelisch-palästinensischen Konflikt, zu den Genoziden an der indigenen Bevölkerung Nordamerikas und an den europäischen Juden. Während Judith Lerner, eine Journalistin aus Tel-Aviv, Licht ins Dunkel der Geschichte bringen will, beschäftigt sich Olga Brodsky, eine russischstämmige Jüdin, mit dunklen Selbstmordgedanken und den Plänen für eine Tat … Die Spielhandlung hat Jean-Luc Godard analog zu den drei Jenseitsreichen in Dantes ›Göttlicher Komödie‹ strukturiert: Hölle, Fegefeuer, Paradies. Nach den Regeln seiner Schuss-Gegenschuss-Dialektik konfrontiert er aufwühlende Montagen fiktiver und dokumentarischer Kriegsbilder mit filmtheoretischen Lehrsätzen und welterklärenden Aphorismen. In diesem visuellen Bewusstseinsstrom stellt ›Notre Musique‹ Fragen nach Verantwortung und Schuld. – Weltpremiere der digital restaurierten Fassung.
Skřivánci na niti
(›Lerchen am Faden‹), Tschechoslowakei 1969/1990, Regie: Jiří Menzel
In den Anfangsjahren der kommunistischen Herrschaft in der Tschechoslowakei dient der Schrottplatz eines Hüttenkombinats bei Kladno als Umerziehungslager für ›bourgeoise Elemente‹. Neben renitenten Intellektuellen sind hier auch strafgefangene Frauen dazu verpflichtet, reaktionäre Relikte wie Kruzifixe und Schreibmaschinen in ›friedlichen Stahl‹ für den Aufbau des Sozialismus umzuschmelzen. Trotz strenger Trennung der Geschlechter kommt es zu zärtlichen Kontakten zwischen einem jungen Koch und einer Arbeiterin … Mit seiner ebenso poetischen wie subversiven Romanze entlarvte Regisseur Jiří Menzel staatliche Reglementierung und Selbstinszenierung als absurdes Theater, in dem die Funktionäre als komische Figuren agieren. 1968 gedreht, wurde die anspielungsreiche Satire 1969, nach der Niederwerfung des Prager Frühlings durch die Warschauer Vertragsstaaten, verboten. Erst nach der Samtenen Revolution 1989 uraufgeführt, erlebte ›Skřivánci na niti‹ seine internationale Premiere 1990 bei der Berlinale. Hier wurde das unterdrückte Meisterwerk der Neuen Welle mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet. – Weltpremiere der digital restaurierten ungekürzten Fassung.
Suzhou he
(›Suzhou River‹), China/Deutschland 2000, Regie: Lou Ye
Ein gesichts- und namenloser Videofilmer erzählt die Geschichte eines Liebespaars in Shanghai: Mardar ist Motorradkurier, Moudan eine junge Frau, die er im Auftrag ihres Vaters herumkutschiert. Sie verlieben sich ineinander. Als Mardar sich an der Entführung Moudans beteiligt, stürzt sich diese in den Suzhou-Fluss. Jahre später meint Mardar, die Totgeglaubte wiederzuerkennen: in Meimei, der Freundin des erzählenden Videofilmers, die als Meerjungfrau in einem Nachtclub auftritt … Wie in Hitchcocks ›Vertigo‹ erlebt hier eine Liebe ihre Wiederauferstehung aus dem Reich der Toten. Auf grobkörnigem 16mm-Material aufgenommen, besticht ›Suzhou River‹ als chinesische Variante des seinerzeit aktuellen Neo-Noir. Zugleich zeichnet der Film das Porträt einer entwurzelten Generation – im steten Wechsel zwischen ›neorealistischen‹ Großstadtbildern, die ein sich radikal wandelndes Shanghai festhalten, und Nachtaufnahmen, die eine subkulturelle Gegenwelt heraufbeschwören. So erschafft Regisseur Lou Ye ein filmisches Vexierspiel um Illusion und Wirklichkeit und erzählt überdies eine wunderbar tragische Liebesgeschichte. – Weltpremiere der digital restaurierten Fassung.
Tommy
Großbritannien 1975, Regie: Ken Russel
England 1951. Als der kleine Tommy Walker mitansehen muss, wie seine Mutter und sein Stiefvater seinen leiblichen, bislang als kriegsvermisst geltenden Vater ermorden, hat das für den Jungen traumatische Folgen. Blind, stumm und taub wird er zum einsamen, herumgeschubsten Sorgenkind. Doch als Tommy am Flipperautomaten genialische Fähigkeiten entwickelt und den Großmeister ›Pinball Wizard‹ besiegt, wandelt er sich zum Heilsbringer für die erlösungssüchtigen Massen … In seiner Adaption der Rock-Oper der Band The Who interpretiert der britische Regie-Exzentriker Ken Russell die persönliche Familienaufstellung von Pete Townshend als glamouröse Satire auf das Popmusik-Business: Hits und Hysterie, Pomp und Pop-Art verschmelzen zu einem sinfonischen Gesamtkunstwerk. Mit dem Quintaphonic Sound System aufgenommen, erzählt ›Tommy‹ sein extravagantes Coming-of-Age-Drama ausschließlich in Gesangsparts, die von illustren Rock- und Hollywood-Stars ausgefüllt wurden. Zu ihnen gehören Elton John, Eric Clapton, Tina Turner sowie Jack Nicholson und die Oscar-nominierte Ann-Margret als umwerfende Übermutter. – Weltpremiere der digital restaurierten Fassung.