Die Vielfalt der Adoleszenz
Inhalt
Im neuen Jahrtausend wird der Coming-of-Age-Film immer beliebter und vielfältiger. Die öffentlichen Diskurse öffnen sich Fragen um Teilhabe, geschlechtliche sowie kulturelle Identität, und es ist oftmals gerade die jüngste Generation, die gesellschaftsrelevante Debatten anregt. Die individuelle Suche nach Identität beschäftigte Filmschaffende zwar seit langem, doch verstärkt sich nun die Sichtbarkeit diverser Figurenperspektiven. Wer und mit wem kann ich sein, wenn ich mich nicht als heterosexuell definiere, nicht als weiß gelesen werde, nicht cis-männlich bin oder nicht in dominierende Vorstellungen physischer und psychischer Normen einer Gesellschaft passe? Wie können wir, egal in welchem Alter, unsere Welt verstehen, wenn nicht durch die Erfahrungen Heranwachsender, erzählt aus unterschiedlichen Perspektiven?
Möglicherweise erfahren Coming-of-Age-Filme sowie -Serien besonders durch ihre Thematisierung identitätspolitischer Fragen nun mehr Aufmerksamkeit und häufiger Raum in einem sich stetig verändernden Kanon, innerhalb eines Mainstream-Medienangebots und als fester Bestandteil von Filmfestivalprogrammen in aller Welt.
Auch wenn in den 1990ern bereits Filme mit adoleszenten Protagonist*innen erschienen, hatte sich zu dieser Zeit die Bezeichnung »Coming-of-Age-Film« – nicht nur im deutschsprachigen Raum – noch nicht durchgesetzt. Mit dem bis dahin gebräuchlichen Begriff des Jugendfilms waren zumeist Filme gemeint, die sich an ein jugendliches Zielpublikum richteten – eine Adressierung, die sich jedoch nicht als entscheidend für den Coming-of-Age-Film erweist. Ab den 2000er-Jahren verstärkte sich die Aufmerksamkeit auf Erzählungen der Adoleszenz für Jung und Alt schließlich auch durch ihre gezieltere Benennung: der Begriff »Coming-of-Age-Film« ebnete sich seinen Weg in die öffentliche Wahrnehmung.
Weiblicher Widerstand
Als »the year the girls grew up on screen« benannte die The Guardian-Journalistin Barbara Ellen im Jahr 2009 eine Welle von Coming-of-Age-Filmen – darunter ›Precious‹ (2009), ›Fish Tank‹ (2009), ›An Education‹ (2009) und ›She, a Chinese‹ (2009) – mit weiblichen, widerständigen Protagonistinnen, deren Probleme sich abseits von Schulhoftratsch und Shopping-Malls abspielen. Keine Geschichten um männliche Jugendliche oder um heterosexuelle Romanzen erzählen diese Spielfilme, sondern, meist mit sozialkritischem Impetus, von Freud und Leid einzelner Teenagerinnen. Während ›American Honey‹ (2016), ›Beach Rats‹ (2017), ›Girlhood (2014), ›Margarita with a Straw‹ (2014), ›Mustang‹ (2015), ›Pariah‹ (2011) und ›Songs my brother taught me‹ (2015) formal dem Drama am nächsten kommen, knüpfen Filme wie ›Raw‹ (2016), ›Blue my mind‹ (2018) oder ›When Animals Dream‹ (2014) erneut eine Verbindung mit dem Horrorfilm-Genre. Sexuelles Erwachen und Begehren finden hier als intensive physische Erlebnisse eine eigene Erzählform.
Viel beachtet wurde im Jahr 2018 ›Ladybird‹, das Regiedebüt von Greta Gerwig, die dafür bei den 90. Academy Awards als erst vierte Frau für den Regie-Oscar nominiert wurde. Ihre Erzählung ist wie viele Teenfilme an einer High-School angesiedelt, wendet sich aber von einem Fokus auf Cliquenwesen und Klischees ab, um die innere Reise ihrer komplexen Hauptfigur zu zentrieren. Als feministische Neuorientierungen jener einseitigen, geschlechtsnormativen Figurenzeichnungen, die bis in die frühen 2000er in Mainstream-Medien populär waren, sind auch Produktionen wie ›Moxie‹ (2021) oder ›Booksmart‹ (2019) lesbar: Binäre Geschlechterordnungen werden in diesen Filmen von den adoleszenten Schüler*innen direkt infrage gestellt.
Die Sichtbarkeit wächst – queere Narrative
Nicht nur weibliche Protagonistinnen erhielten in Coming-of-Age-Filmen eine Bühne, es öffneten sich generell Repräsentation und Vorstellungen von Gender und Geschlecht durch eine Vielzahl an Charakteren sowohl im sogenannten Mainstream als auch im Independent-Bereich. Der Einfluss des in den 1990er-Jahren entstandenen und von der Filmkritikerin B. Ruby Rich 1992 benannten »New Queer Cinema« wirkte in die breitere Filmlandschaft des neuen Jahrtausends hinein. Doch bildeten sich mit dem Eintritt in den Mainstream und der damit verbundenen erhöhten Sichtbarkeit queerer Figuren auch bald zahlreiche Klischees: Adoleszente LGBTQI+-Charaktere mussten etwa in den meisten Geschichten ihr Coming-out durchleben, das den alleinigen Fokus der Identitätssuche darstellte und selten intersektionale Verknüpfungen schaffte.
Diese aus Marginalisierung und Auslassungen resultierenden Repräsentationsformen scheinen sich seit #Metoo in Ansätzen im Wandel zu befinden. Céline Sciammas Coming-of-Age-Triologie ›Water Lillies‹ (2007), ›Tomboy‹ (2011) und ›Girlhood‹ (2014) zeigt, wie Geschichten der Adoleszenz auf Augenhöhe sensibel erzählt werden können, und wurde wegweisend für viele nachfolgende Narrative des Genres. Im deutschsprachigen Raum näherten sich Filmschaffende mit ›Siebzehn‹ (2017), ›L’Animale‹ (2018), ›Futur Drei‹ (2020), ›Kokon‹ (2020), ›Neubau‹ (2020) und ›Nackte Tiere‹ (2020) ebenso den Lebenswelten queerer (post-)adoleszenter Figuren. Einige sind vom Alter ihrer Protagonist*innen selbst nicht so weit entfernt – ganz im Gegensatz zu den (semi-)autobiografischen Coming-of-Age-Protagonisten von Steven Spielberg, Paolo Sorrentino oder James Gray. Diese von etablierten Regisseuren vorgenommenen reflektierenden, oft nostalgischen Rückblicke in die eigene Vergangenheit scheinen einen derzeitigen Trend zu bilden.
(Semi-)autobiografisch und (semi-)dokumentarisch
Persönliche Erlebnisse bieten das Grundmaterial für so manches Coming-of-Age-Drehbuch und werden nicht selten zum Gegenstand von Debüt- bzw. Hochschulabschlussfilmen. Die Vergangenheit lebt durch die Filmbilder in der Gegenwart erneut auf. Sie wird entweder in ein Heute transferiert oder ist klar in einem vergangenen Jahrzehnt angesiedelt. Oft sind es gerade real stattgefundene historische Ereignisse oder Bewegungen, die das Leben einer Figur prägen, etwa die HIV-Krise in ›Minyan‹ (2020), die Okra-Krise in ›Beans‹ (2020) oder die sexuelle Revolution in ›Ginger & Rosa‹ (2012). Diese beim Heranwachsen erfahrenen Einschnitte wirken im erwachsenen Menschen fort, ihnen wird, häufig von der filmschaffenden Person selbst, retrospektiv Bedeutung verliehen.
Eine viel direktere Form der biografischen Narration, die ihrem Publikum weniger Rätsel darüber aufgibt, welche Erlebnisse unmittelbar aus dem Leben der Person hinter der Kamera stammen, stellen dokumentarische Coming-of-Age-Filme dar. In ›Beba‹ (2021), ›Weiyena‹ (2020) oder ›80.000 Schnitzel‹ (2020) begeben sich die Filmemacherinnen auf die Suche nach der eigenen (Familien-)Biografie, in der die Lebensphase der Adoleszenz stets einen entscheidenden Orientierungspunkt einnimmt. Der Rückblick wird identitätsstiftend und wirkt als Befreiung von dominierenden Normen oder schmerzhaften Erfahrungen, die in der Jugend durchlebt wurden. Der kommunikative Charakter dieser persönlichen Dokumentarfilme baut eine Brücke zwischen den Generationen einer Familie, die sich einander durch das Auge der Kamera nähern und in aufrichtige Dialoge miteinander treten.
In dem deutschen Spielfilm ›Futur Drei‹ (2020) verdichten sich alle diese Elemente innerhalb einer Erzählung: Fiktion, Biografie und intergenerationale Brücken. Die realen Eltern des Filmemachers Faraz Shariat spielen sich selbst in seinem autobiografischen Debüt, das zudem dokumentarisches Material aus dem Familienarchiv enthält. Die postmigrantisch-queeren Erfahrungen des Protagonisten in ›Futur Drei‹ lassen uns zudem erahnen, wie viele und diverse Coming-of-Age-Geschichten noch darauf warten, erzählt bzw. (wieder-)entdeckt zu werden. Filmische Geschichten und Geschichte müssen erzählt, aber auch wiedergefunden werden – dazu möchte dieser Text einen Beitrag leisten, konnte aber nur einen kleinen Ausschnitt aus dem breiten Spektrum der Coming-of-Age-Filmlandschaft sichtbar werden lassen.