Berlinale Classics 2024
Restaurierte Filmklassiker und Wiederentdeckungen auf der großen Leinwand
Die Filme der Berlinale Classics
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Programm
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Bei den 74. Internationalen Filmfestspielen Berlin zeigen wir bild- und tongewaltige Genre-Vielfalt: Die Filmauswahl bewegt sich zwischen frühem Tonfilmexperiment, nüchtern-distanziert gefilmtem Schwarzweißdrama und kunstvoll bunter Exploitation. Die restaurierten Filme in digitaler Fassung werden als Weltpremieren gezeigt.
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After Hours
›Die Zeit nach Mitternacht‹, USA 1985, Regie: Martin Scorsese
Ein New Yorker Programmierer wird nach Feierabend in einem Schnellrestaurant von einer jungen Frau angesprochen, die er wenig später in ihrem Loft besucht. Es liegt im Künstlerviertel SoHo, wo dem smarten Yuppie die schlimmste Nacht seines Lebens bevorsteht. Nicht nur reiht sich ein Missgeschick an das andere. Auch kommt es zu einer ganzen Serie von verwirrenden oder unliebsamen Begegnungen mit aggressiven oder hysterischen Nachtschwärmern, an deren Ende ihn ein aufgebrachter Mob durch die Straßen jagt.
Franz Kafka und Edvard Munchs »Der Schrei« standen Pate bei Martin Scorseses schwarzer Komödie. Mit der Logik eines Albtraums reihen sich während der nächtlichen Odyssee durch die Subkultur Downtown Manhattans die bizarren Begegnungen aneinander. After Hours war Scorseses erste Zusammenarbeit mit dem Kameramann Michael Ballhaus und trug ihm den Regiepreis in Cannes ein. Gleichwohl setzt sich diese wagemutige »Screwball noir« auch im Werkkanon Scorseses zwischen alle Stühle.
Die Restaurierung beruht auf dem Kameranegativ und einer 35-mm-Kopie aus der Sammlung von Martin Scorsese, der gemeinsam mit der Editorin Thelma Schoonmaker auch die Farbbestimmung beaufsichtigte. -
Batalla en el cielo
›Battle in Heaven‹, MX/D/BE/F 2005, Regie: Carlos Reygadas
Marcos und seine Frau haben das Baby ihrer Schwägerin entführt und dabei dessen Tod verschuldet. Während Marcos’ Frau einen Bußgang zur Basilika von Guadalupe für ausreichend hält, will Marcos bei der Polizei ein Geständnis ablegen. Marcos arbeitet in Mexiko-Stadt als Chauffeur für einen Armeegeneral; mit dessen Tochter, die sich heimlich in einem Luxusbordell prostituiert, unterhält er eine Liaison. Doch auch der Sex mit ihr kann Marcos nicht aus seiner moralischen Malaise und sozialen Deprivation erlösen.
Die ungeschönte Körperlichkeit ihres übergewichtigen (Laien-)Darstellers, Akte sinnloser Gewalt und expliziter Sex sorgten 2005 wiederholt für Schockmomente in Carlos Reygadas’ provokanter Männlichkeitsstudie Batalla en el cielo. Stete Verweise auf die Allmacht strenger Hierarchien komplettieren den Film zur Panorama-Aufnahme eines sozial gespaltenen Landes.
In der 4K-Restaurierung kommen die prononcierte Kameraführung mit langen Einstellungen, Fahrten und Schwenks bis zu 360 Grad sowie die hyperrealistische Bildgestaltung, die an Arbeiten des britischen Sozialfotografen Martin Parr erinnert, noch prägnanter zum Ausdruck. -
Deprisa, deprisa
ES/F 1981, Regie: Carlos Saura
Die Freunde Pablo, Meca und Sebas begehen in Madrid bewaffnete Raubüberfälle. Als sich Pablos neue Freundin Angela daran beteiligt, verkleidet sie sich als Mann. Beim Überfall auf einen Geldtransporter erschießt sie einen der Fahrer. Dann kommt es zu Schusswechseln mit der Polizei.
Autofahren, kiffen, in der Disco abhängen: Nach der Franco-Diktatur entstanden, beschrieb der Film das Lebensgefühl vieler Jugendlicher während der »transición« Spaniens zur Demokratie – mit hoher Arbeitslosigkeit und Inflation, mit Drogenkonsum und Medienüberflutung – sehr genau. Mit Laiendarstellern besetzt, die im Grunde ihr Leben nachstellten, orientierte er sich eng an der Realität. Dass Carlos Saura diese jugendlichen Straftäter*innen, ohne sie zu verherrlichen, nicht verurteilte, brachte ihm heftige Kritik ein. Schnörkellos und rasant inszeniert, lüftete Deprisa, deprisa als prägnanter Vertreter des „Cine quinqui“ (Delinquentenfilm) das spanische Kino durch und nahm die Thematik von Sauras Regiedebüts ›Los golfos‹ (›Die Straßenjungen‹, 1959) wieder auf, was als Beleg für seine Affinität zu juvenilen Außenseitern gelten mag. Der Film wurde 1981 mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet. -
Gojira
›Godzilla‹, J 1954, Regie: Ishirō Honda
Atombombentests vor der japanischen Küste schrecken ein prähistorisches Meeresungeheuer auf, das daraufhin Tokio in Schutt und Asche legt. Während ein älterer Professor an ihm die Überlebensfähigkeit unter radioaktivem Befall studieren möchte, verfügt ein junger Wissenschaftler mit seinem Oxygen-Zerstörer bereits über eine Waffe, die „Godzilla“ den Garaus machen könnte.
Nachdem 1954 japanische Fischer in den Fallout amerikanischer Atombombentests geraten waren, schuf Ishirō Honda mit Gojira ein filmisches Memorial an die atomare Zerstörung Hiroshimas und Nagasakis 1945, in dem das nukleare Trauma der Nation durch den Sieg über die Riesenechse schauspielerisch bewältigt wurde.
Die neue 4K-Restaurierung eines der erfolgreichsten Filme der japanischen Kinogeschichte würdigt nicht nur dessen optische Brillanz bei der Wiedergabe des Miniaturmodells von Tokio, das im Toho-Studio von einem Schauspieler im Monsterkostüm niedergetrampelt wurde. Auch dem exzellenten Sounddesign mit den Schreckensschreien des Ungeheuers und seiner schutzlosen Opfer sowie der aufwühlenden Filmmusik von Akira Ifukube schenkt sie ihre besondere Aufmerksamkeit. -
Kohlhiesels Töchter
D 1920, Regie: Ernst Lubitsch
Der Gastwirt Kohlhiesel hat zwei Töchter, die fesche Gretel und die Liesel, eine Kratzbürste. In die Gretel ist der Bauer Xaver verliebt, doch der Kohlhiesel will sie ihm erst zur Frau geben, wenn Schwester Liesel unter der Haube ist. Als sich für diese kein Heiratswilliger findet, wird dem Xaver von seinem Kumpel Seppl geraten, die Liesel vorübergehend selbst zu ehelichen. Xaver ahnt nicht, dass auch der Seppl in die Gretel verliebt ist. Auch kann er nicht wissen, dass seine rüde Behandlung Liesels nach der Hochzeit eine andere als die geplante Wirkung entfaltet.
Der winterliche Bauernschwank war die populärste Komödie, die Lubitsch in Deutschland gedreht hat. Mit sichtlichem Spaß aller Beteiligten an der Übertreibung wird hier ein Stoff der Hochliteratur ins Grotesk-Komische überführt. Lubitsch, 1947: »Es war ›Der Widerspenstigen Zähmung‹, in die bayrischen Berge versetzt.« ›Kohlhiesels Töchter‹ ist ein früher filmischer Gipfelsturm, bei dem der Lubitsch-Touch schon wetterleuchtet. Hans Helmut Prinzler, 1984: »Handlung und Komik werden aus Minustemperaturen entwickelt, kulminieren in Rutschpartien, bei denen die Körper in lustvolle Unbeholfenheit versetzt werden.« -
Offret
›Opfer‹, SE/F 1986, Regie: Andrei Tarkovsky
Der ehemalige Schauspieler Alexander hat sich auf eine schwedische Insel zurückgezogen. Hier feiert er mit seiner Ehefrau, den zwei Kindern und wenigen Gästen seinen 50. Geburtstag. Als die Erde bebt, erfährt die Gruppe vom Ausbruch eines Atomkriegs. Um Gott versöhnlich zu stimmen, ist Alexander bereit, sich im Beischlaf mit der als „Hexe“ titulierten Magd Maria als Opfer darzubieten.
Der letzte Film des bereits todkranken Regisseurs Andrei Tarkovsky wurde wenige Wochen nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl uraufgeführt und als bildmächtige Mahnung eines »Sehers« (Ingmar Bergman) wahrgenommen. Tatsächlich verbindet Offret in poetischen Bildkompositionen und philosophisch-religiösen Dialogen die schonungslose Lebensbilanz seines Protagonisten mit einem eindringlichen Plädoyer für die Selbstbesinnung und -beschränkung des modernen Menschen.
Die 4K-Restaurierung bewahrt insbesondere die meisterhafte Lichtsetzung und Farbdramaturgie mitsamt ihren Sepia- und Schwarzweißpassagen. Für seine herausragende künstlerische Leistung wurde der Kameramann Sven Nykvist bei den Filmfestspielen in Cannes mit einem Sonderpreis ausgezeichnet. -
Reifezeit
BRD 1976, Regie: Sohrab Shahid Saless
Michael (9) ist ein Schlüsselkind. Er schläft meistens schon, wenn seine Mutter spätnachts nach Hause kommt, und wenn er morgens in die Schule geht, schläft wiederum die Mutter. Sie arbeitet als Prostituierte und weint ziemlich häufig. Michael spart auf ein Fahrrad, macht dafür Besorgungsgänge und sieht sich gezwungen, regelmäßig Mitschüler zu beklauen. Michael ist ziemlich oft allein.
Der Čechov-Satz »Ich bin allein wie der Wind auf den Feldern« gab die Anregung zu dieser eindrücklichen Alltagsstudie aus der Perspektive eines Kindes im Berliner Wedding, das sich vorzeitig den Gesetzen der Erwachsenenwelt unterwerfen muss. Mit sparsamen Dialogen und in präzise stilisierten Bildern erzählt ›Reifezeit‹ von sozialer Kälte und Ausgrenzung. Beides geht einher mit einer allgemeinen, unterschwelligen Gewalt, die sich schließlich vor den Augen des Jungen offen manifestiert.
Die Restaurierung ist Teil eines transnationalen Projekts mit dem Ziel, das Gesamtwerk des iranischen Regisseurs Sohrab Shahid Saless wieder zugänglich zu machen. Er arbeitete ab 1974 in der Bundesrepublik und verstarb 1998 in den USA. -
The Day of the Locust
›Der Tag der Heuschrecke‹, USA 1975, Regie: John Schlesinger
Als der Maler Tod Hackett in den 1930er-Jahren nach Los Angeles kommt, um in der Ausstattungsabteilung von Paramount zu arbeiten, verliebt er sich in die Filmstatistin Faye Greener. Wie zahlreiche Kleindarsteller*innen in ihrer gemeinsamen Nachbarschaft träumt Faye von einer großen Hollywood-Karriere. Zwar wünscht sie sich einen reichen Ehemann, tatsächlich aber lässt sie sich mit Versagern ein und prostituiert sich schließlich. Nur vorübergehend findet sie Zuflucht bei Homer Simpson, einem stillen Buchhalter.
In seiner Romanvorlage schilderte Nathanael West Hollywood als ein Sodom der Verlogenheit und Oberflächlichkeit. Die Verfilmung durch den Briten John Schlesinger übernahm Wests entlarvende Perspektive auf die menschenverschlingende Traumfabrik, milderte das apokalyptische Sittengemälde jedoch durch eine glamouröse Ausstattung im Nostalgie-Trend der 1970er-Jahre.
Die Restaurierung kehrt eindrucksvoll die immensen Schauwerte von The Day of the Locust hervor. Mit ihren historisierenden Kostümen und Kulissen gehört die selbstreflexive Studioproduktion zu den visuell prächtigsten Spielfilmen aus dem Umkreis des New Hollywood. -
The Love Parade
Liebesparade, USA 1929, Regie: Ernst Lubitsch
Wegen seiner zahllosen Liebesaffären wird Graf Alfred, Militärattaché an der Botschaft von Sylvania in Paris, in die Heimat zurückbeordert. Doch anstatt ihn zu bestrafen, sinkt auch die ledige Königin Louise I. in seine Arme. Die Heirat erfolgt umgehend. Als »untertäniger« Prinzgemahl hat Alfred allerdings keinerlei Rechte, weder bei der Regentschaft, noch in der Ehe. Als er bei einem Opernabend gute Miene zum bösen Spiel machen soll, begehrt er auf.
In seinem ersten Tonfilm erhob Ernst Lubitsch ›Der Widerspenstigen Zähmung‹ in den höheren Adelsstand. Während die Stars Maurice Chevalier und Jeanette MacDonald ihren Geschlechterkampf nach allen Regeln des »Lubitsch-Touchs« mit erotischer Finesse führen, erinnert der spiegelbildliche Streit zwischen ihrer Dienerschaft (Lupino Lane und Lillian Roth) an die groben Scherze in Lubitschs frühem Schwank ›Kohlhiesels Töchter‹. Mit seinen hyperrealen Gesangseinlagen prägte ›The Love Parade‹ das Genre der Tonfilmoperette. Ernst Lubitsch, 1929: »Das Publikum muss die Fähigkeit haben, sich in eine Welt zu versetzen, in der Menschen sich gegenseitig ihre Gefühle durch Gesang vermitteln.« -
Tian bian yi duo yun
›The Wayward Cloud‹, TW/F 2005, Regie: Tsai Ming-liang
Ein heißer Sommer in Taipeh: Wasser wird zur Mangelware, stattdessen sind Melonen angesagt! Als eine junge Koreanerin eines Nachts einem alten Bekannten wiederbegegnet, entwickelt sich bei weiteren nächtlichen Treffen in ihrer Wohnung eine zarte, fast wortlose Romanze. Shiang-chyi hat keine Ahnung, dass Hsiao-kang sich mittlerweile als Darsteller in billigen Pornofilmen verdingt, die ein amateurhaftes Team im selben Hochhaus dreht. Auch dabei kommen Melonen zum Einsatz.
Großstädtische Vereinsamung und eine mit ihr korrespondierende Entfremdung und sexuelle Ausbeutung stehen im Zentrum der modernen Liebesgeschichte, die ›Tian bian yi duo yun‹ erzählt, wobei die vielfältige Verwendung von Melonen für Irritationen, aber auch für komische Momente sorgt. Der Film erhielt bei der Berlinale 2005 drei Preise, darunter den Silbernen Bären für die »Herausragende künstlerische Leistung«.
Deutlich hebt die 4K-Restaurierung die Kontraste zwischen stillen, dunklen Szenerien im urbanen Moloch und den heiteren, farbenfrohen Musical-Einlagen hervor, die die Handlung wiederholt unterbrechen und ironisch kommentieren.