Berlinale Classics 2018
Die Berlinale Classics bringen im Rahmen der Internationalen Filmfestspiele Berlin digital restaurierte Filmklassiker und Wiederentdeckungen zurück auf die große Leinwand.
Classics
Az én XX. századom
(›Mein 20. Jahrhundert‹), HUN/BRD 1949, Regie: Ildikó Enyedi
1879. Während in New Jersey Thomas Alva Edison Menlo Park im Licht der neuen Glühbirnen erstrahlen lässt, beginnt in Budapest, im tristen, fernen Europa, für die Zwillinge Dora und Lili eine licht- und freudlose Kindheit. Auf wundersame Weise voneinander getrennt, gehen sie bald unterschiedliche Wege: Dora reüssiert als Hochstaplerin, Lili schließt sich einer Anarchistengruppe an. In der Silvesternacht 1899 kreuzen sich ihre Lebensläufe, ohne sich zu berühren, im Orientexpress. Was sie verbinden wird, ist Z, ein weitgereister Gentleman, der nicht ahnt, dass er mit zwei Frauen eine Liaison hat statt mit einer … Das Debüt der 2017 für ihren Film ›Testről és lélekről‹ (›Körper und Seele‹) mit dem Goldenen Bären ausgezeichneten Regisseurin Ildikó Enyedi funktioniert wie ein Vexierbild. Es bietet dem Zuschauer eine romantische Liebesgeschichte, ein poetisches Märchen, ein erotisches Rätsel – und zugleich ein Inventar der einstmals Neuen Medien: Elektrizität, Telegrafie, Film. Als eine Hommage an den Stummfilm gedacht und in Schwarz-Weiß gedreht, zitiert ›Az én XX. századom‹ dessen technische Mittel und Tricks. – Welterstaufführung der digital restaurierten Fassung im Vorführformat 4K DCP.
Das alte Gesetz
D 1923, Regie: Ewald André Dupont
Galizien, Mitte des 19. Jahrhunderts: Baruch, Sohn eines orthodoxen Rabbiners, will Schauspieler werden. Gegen den Willen seines Vaters verlässt er das osteuropäische Schtetl und schließt sich einem Wandertheater an. Die österreichische Erzherzogin Elisabeth Theresia findet Gefallen an dem jungen Mann und verschafft ihm aus heimlicher Liebe ein Engagement am Wiener Burgtheater. Dort steigt Baruch zum umjubelten Bühnenstar auf … Mit seiner komplexen Darstellung von Orthodoxie und Emanzipation ist E. A. Duponts Historienfilm ein Höhepunkt jüdischen Filmschaffens in Deutschland. Mit der aktuellen Restaurierung wird die verschollene deutsche Premierenfassung in ihrer ursprünglichen Länge und in einer zeitgenössischen Einfärbung erstmals wieder zugänglich. Die für die Wiederaufführung von Philippe Schoeller geschaffene neue Ensemblemusik wird vom Orchester Jakobsplatz München unter Leitung von Daniel Grossmann aufgeführt. – Welterstaufführung der digital restaurierten Fassung im Vorführformat 2K DCP. Eine Kooperation der Internationalen Filmfestspiele Berlin mit der Deutschen Kinemathek und dem ZDF in Zusammenarbeit mit ARTE.
Der Himmel über Berlin
BRD/F 1987, Regie: Wim Wenders
Die Hauptfiguren des Films sind die Schutzengel Damiel und Cassiel, freundliche unsichtbare Wesen in langen Mänteln. Sie können in die Menschheitsgeschichte nicht eingreifen, aber die Gedanken der Sterblichen hören und versuchen, sie zu trösten. Damiel verliebt sich in die Trapezkünstlerin Marion und will ein Mensch werden, auch wenn er dafür seine Unsterblichkeit aufgeben muss. Peter Falk, der sich selbst als einen ehemaligen Engel spielt, hat den Absprung aus der Ewigkeit schon hinter sich und ermutigt Damiel zu diesem Schritt. Der Film ist aus der Perspektive der Engel erzählt. Sie sehen die Welt in Schwarzweiß. Erst als Damiel ein Mensch wird, eröffnen sich ihm die Farben … Gedreht wurde auf Schwarz-Weiß- und Farbmaterial. Diese Kombination erforderte zusätzliche Kopierschritte bis hin zu einem endgültigen Farbnegativ, das mehrere Generationen von den Kameranegativen entfernt war. Für die digitale Bearbeitung wurden die Originalnegative in 4K gescannt, retuschiert und lichtbestimmt, und der Film kann heute so gezeigt werden, wie sein Kameramann Henri Alekan ihn sich gewünscht hätte – Welterstaufführung der restaurierten Fassung im Vorführformat 4K DCP.
Fail Safe
(›Angriffsziel Moskau‹), USA 1964, Regie: Sidney Lumet
Als auf dem Radar der Luftabwehr der US Air Force ein unbekanntes Flugobjekt auftaucht, werden routinemäßig mehrere Staffeln mit Atomsprengköpfen in Gefechtsbereitschaft versetzt. Fast schon erwartungsgemäß erweist sich die vermeintliche Bedrohung als harmloser Irrflug. Eines der Geschwader hat jedoch bereits seine Warteposition verlassen und Moskau ins Visier genommen. Aufgrund einer technischen Panne lässt es sich nicht zurückbeordern. Nachdem auch der verzweifelte Versuch misslingt, die Bomber von eigenen Fliegern abschießen zu lassen, greift der US-Präsident zum Roten Telefon, um den sowjetischen Staatsführer von einem atomaren Vergeltungsschlag abzuhalten. Im Gegenzug zeigt er sich zu einer ungewöhnlichen Maßnahme bereit … Der Atomkrieg als Kammerspiel: Nach der Vorlage eines während der Kubakrise 1962 erschienenen Bestsellerromans stellte das spannende Psychodrama die Militärdoktrin des Kalten Krieges eindrucksvoll in Frage, indem es Politiker und Militärs konsequent der fatalen Logik vom Gleichgewicht des Schreckens unterwarf. – Welterstaufführung der digital restaurierten Fassung im Vorführformat 4K DCP.
HaChayim Al-Pi Agfa
(›Life According to Agfa – Nachtaufnahmen‹), ISR 1992, Regie: Assi Dayan
Eine Bar in Tel Aviv: Bohemiens, Geschäftsleute, Junkies, Touristen, Zuhälter, Soldaten – alle treffen hier aufeinander, und alle sind sie einsam und verloren. Die Chefin Daliah träumt davon, dass ihr Liebhaber für immer bei ihr bleibt, die Barfrau Liora sieht darüber hinweg, dass ihr Freund es mit jeder Frau treibt, die er kriegen kann. Die Kellnerin Daniela wünscht sich fort nach Amerika, und Riki, die aus dem Kibbutz stammt, findet sich im Leben so wenig zurecht wie in der großen Stadt … In den Ereignissen einer Nacht, festgehalten auf Schwarz-Weiß-Fotos, die dem Film seinen Namen gaben, spiegelt sich eine Gesellschaft, die sich selbst für liberal und tolerant hält, aber bei scheinbar geringen Anlässen zu explodieren droht. Regisseur Assi Dayan betonte seinerzeit, ›HaChayim Al-Pi Agfa‹ sei nicht als ein Psychogramm nur der israelischen Gesellschaft zu verstehen, sondern könne an jedem Ort der Welt spielen. Nur wenig später, 1995, als Israels Premier Itzchak Rabin in Tel Aviv ermordet wurde, sollte sich zeigen, wie nah Dayans apokalyptische Vision an der konkreten Realität des Landes war. – Welterstaufführung der digital restaurierten Fassung im Vorführformat 4K DCP.
Letjat schurawli
(›Wenn die Kraniche ziehen‹), UdSSR 1957, Regie: Michail Kalatosow
1941. Frühsommer in Moskau. Boris und Veronika sind verliebt und glücklich. Bis in den frühen Morgen durchstreifen sie die Stadt, sie scherzen und sie necken sich, und über ihnen ziehen die Kraniche. Dann überfallen die Deutschen die Sowjetunion, und alles ändert sich. Boris geht als Freiwilliger an die Front, ein Abschied bleibt den Liebenden nicht. Als Veronika bei einem Luftangriff ihre Eltern verliert, nimmt Boris’ Familie sie bei sich auf. Einsam und ohne Lebensmut, wird sie der Obhut von Boris’ Cousin Mark anvertraut. Doch Mark erweist sich als Schuft und rücksichtsloser Egoist, der sich vor der Front drückt. Veronika wartet auf Boris … In der Liberalisierungsphase nach Stalins Tod entstanden, war ›Letjat schurawli‹ der erste Welterfolg des sowjetischen Kinos nach dem Zweiten Weltkrieg. In Abkehr vom sozialistischen Realismus beeindruckte der Film mit expressionistischen, zuweilen surrealistischen Bildern einer entfesselt wirkenden Kamera. Statt heroischer Sieger zeigte er das Leid und die Opfer der Zivilbevölkerung. Bei den Filmfestspielen in Cannes 1958 erhielt der Film die Goldene Palme. – Welterstaufführung der digital restaurierten Fassung im Vorführformat 2K DCP.
Tokyo Boshoku
(›Tokio in der Dämmerung‹), Japan 1957, Regie: Yasujiro Ozu
Die Mutter von Takako und Akiko hat die Familie vor langer Zeit verlassen, und ihr Vater musste die beiden kleinen Töchter allein großziehen. Jetzt, da sie erwachsen sind, begreift der angesehene Geschäftsmann, wie unglücklich sie sind. Takako kehrt nach einem Streit mit ihrem trinkenden Ehemann ins Haus des Vaters zurück. Dort lebt auch ihre jüngere Schwester Akiko, die sich nach einem anderen Leben sehnt. Sie läuft dem Studenten Ken nach, der sich herumtreibt und seine Zeit mit Spielen verbringt. Als sie von ihm schwanger wird, will er nichts mehr von ihr wissen. Auf der Suche nach ihm begegnet sie einer Frau, die ein Mahjong-Lokal betreibt und Dinge aus ihrer Kindheit weiß, die nur eine Mutter wissen kann … Die vom japanischen Meisterregisseur Yasujiro Ozu stets aufs Neue variierte Geschichte vom Ende eines familiären Zusammenlebens erfährt in diesem Film eine dramatische und düstere Wendung. In einem kahlen, kalten Tokio zerbricht eine junge Frau an der Strenge und am Schweigen ihres Vaters. Das weitgehend unbekannte Werk gilt als dunkelster Nachkriegsfilm Ozus. – Welterstaufführung der digital restaurierten Fassung im Vorführformat 4K DCP.