Das Nossendorf-Projekt – Eine Installation von Hans Jürgen Syberberg
13.11. – 8.12.10
Bereits in der sogenannten »Deutschen Trilogie« – seinen in den 1970er-Jahren entstandenen Filmen über Ludwig II., Karl May und Hitler – setzte sich Hans Jürgen Syberberg intensiv mit der deutschen Geschichte auseinander. Mit den von Edith Clever gesprochenen filmischen Monologen Die Nacht (1984/85) und Ein Traum, was sonst? (1991/94) fügte er diesem Themenfeld die Perspektive einer persönlichen Erinnerungs- und Trauerarbeit hinzu. In beiden Filmen überlagern sich Fragmente des kollektiven und des individuellen Gedächtnisses. Zitate von Goethe, Hölderlin und Kleist werden mit Syberbergs Erinnerungen an das Elternhaus seiner Kindheit in Nossendorf (Vorpommern) verschränkt. Ist Die Nacht von einer romantisch verklärten Melancholie und Leichtigkeit bestimmt, dominieren in Ein Traum, was sonst Trauer und Schmerz in einer von Gespenstern bevölkerten Ruinenlandschaft.
Mit dem Fall der Mauer 1989 wird das Land der Kindheit wieder greifbar. Der Film Gang durch das Haus aus dem Jahr 2000 führt auf den Boden der Realität: Mit einer Kamera durchstreift Syberberg nach über 50 Jahren wieder das elterliche Anwesen, dokumentiert die Spuren der Zeit und den Vandalismus der vergangenen Jahre. Im Wissen darum, dass eine Rekonstruktion immer nur eine Transformation sein kann, arbeitet er seither an der Neubestimmung seines Geburtshauses. Vier Webcams und ein Online-Tagebuch dokumentieren den täglichen Fortschritt. Mit dem »Projekt Nossendorf« stellt Hans Jürgen Syberberg Fragen nach Identität und Heimat, gibt Verlust und Leid, Mythen und Virtualitäten einen Raum.
Für die originalgetreue Restaurierung des Nossendorfer Anwesens erhielt Hans Jürgen Syberberg im Herbst 2010 den Landesdenkmalpreis von Mecklenburg-Vorpommern.
Näheres zum Projekt Nossendorf unter www.syberberg.de
In Zusammenarbeit mit dem Zeughauskino im Deutschen Historischen Museum
Pressereaktionen
Tagesspiegel, 10. November 2010
Genie und Wohnsinn
Von Peter von Becker
(…) Das Haus steht in Nossendorf, einem dahingestreuten Nest mit ein paar hundert Bewohnern im hohen, tiefen Nordosten des Landes. Eine knappe Stunde von Greifswald, weg vom Meer, weg von allem. (…) Aber das Haus hat jeden Tag seine dreitausend Besucher. Es ist das neue alte Heim des Filmregisseurs Hans Jürgen Syberberg. In einer Stube im ersten Stock wurde er geboren, in vier Wochen ist das nun 75 Jahre her. Die dreitausend Besuche sind freilich virtuell – der Künstler und Hausherr stellt die alle zwanzig Minuten aktualisierten Bilder aus Nossendorf ins Netz. (…) Für jeden Tag des sonderbaren Kampfes gibt es seitdem eine neue Webtagebuchseite, und 2003 hatte bereits das Pariser Centre Pompidou eine von Syberberg inszenierte Ausstellung »Paris-Nossendorf« gezeigt. Eine Variation der Vision folgte dann in Wien. Nun zum doppelten Jubiläum – 75. Geburtstag und zehn Jahre am Wiedergeburtsort – wird am Freitagabend im Museum für Film und Fernsehen am Potsdamer Platz Hans Jürgen Syberbergs multimediale Schau »Das Nossendorf-Projekt« eröffnet, dazu gibt’s ab Ende des Monats eine Syberberg-Retrospektive im Zeughauskino des Deutschen Historischen Museums in Berlin. (…)
Die Welt, 12. November 2010
Landnahme eines Mythomanen
Von Heimo Schwilk
(…) Hohes und Niedriges: Das könnte auch als Motto stehen über der aus Anlass von Hans Jürgen Syberbergs 75. Geburtstag im Museum für Film und Fernsehen am Potsdamer Platz in Berlin gezeigten multimedialen Schau »Das Nossendorf-Projekt. Eine Installation«. Sie legt er seinem Gast dringend ans Herz, durch sie führt er ihn zwei Tage vor der Eröffnung. Letzte Änderungen werden vorgenommen, Bilder des befreundeten Fotografen Hans Pölkow aufgehängt, die Syberberg mit Susan Sonntag und Heiner Müller zeigen.
In einem abgedunkelten Raum des Museums kann man sich dem hohen Ton der von Edith Clever gesprochenen Texte von Goethe, Hölderlin und Kleist aussetzen, den auf zwei Leinwänden alternierend vorgeführten Filmen Die Nacht (1984/85) und Ein Traum, was sonst (1991/94). Hier schlägt Syberberg den Bogen zurück in seine Kindheit, memoriert den Schulweg »über die lehmige Dorfstrasse hinaus in die Welt«. (…)
Die Tagespost, 16. November 2010
Zu einer Ästhetik gehört ein tragisches Lebensgefühl
Projekt Nossendorf: Hans Jürgen Syberbergs Kunst kehrt zurück ins Kulturleben
Von Ingo Langner
(…) Schon in seinen 1985 und 1990 entstandenen Filmen Die Nacht und Ein Traum, was sonst, in denen Edith Clever den hohen Sinn der deutschen Romantik und Klassik beschwört, arbeitet Syberberg mit Bildern, die die Wiedergeburt Nossendorfs und die Rekonstruktion seiner alten Taufkirche imaginieren. Eine Kurzfassung der beiden Filme bildet den Kern seiner Installation im Filmhaus am Potsdamer Platz – ergänzt durch vier Webcams, die Livebilder vom Nossendorfer Gutshaus zeigen, einigen signifikanten Photos und Erinnerungsstücken, aber vor allem durch ein maßstabsgetreues Holzmodell des neu zu errichtenden Kirchturms.
Dieses Kirchturmmodell und der erhoffte reale Wiederaufbau stehen denn auch im Zentrum des Ausstellungseröffnungsfestes, das im stimmungsvollen Spiegelsaal von Clärchens Ballhaus gefeiert wird und so unterschiedliche Kulturmenschen wie den Filmregisseur Wim Wenders, den Bildwissenschaftler Horst Bredekamp oder den Historiker Karl Schlögel an Hans Jürgen Syberbergs Tafelrunde zusammenführt. Es ist die eines Mannes, der aus tiefster Seele eine Ästhetik ablehnt, in der es kein tragisches Lebensgefühl mehr gibt. Kierkegaards Schmerz über den Waldbrand der Abstraktion ist auch Syberbergs Schmerz. Er hat, wie Heinrich von Kleists Prinz von Homburg, die Parole vom Herzen empfangen. Hans Jürgen Syberbergs Rückkehr nach Berlin ist ein historisches Ereignis.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. November 2010
Die zweite Erfindung der Kindheit
Hans Jürgen Syberbergs »Nossendorf-Projekt« als Ausstellungsobjekt in der Deutschen Kinemathek Berlin
Von Andreas Kilb
Das Stückchen Holz dort in der Vitrine, es schweigt, es spricht. »Verbundener Ast« steht da, nicht ganz präzise, auf einem Zettel neben dem Zweiglein, dem Überbleibsel eines Rosenstocks, der verschnitten und beinahe abgestorben war, als der Künstler ihn im Garten seines Geburtshauses fand. Hans Jürgen Syberberg hat ihn wieder zum Blühen gebracht, so wie er Nossendorf, den Ort seiner Kindheit, zum Blühen bringen will – das Gutshaus, einst Eigentum seines Vaters, das er vor zehn Jahren zurückkaufte, die Dorfkirche, die einen neuen Turmhelm bekommen soll, die Wege und Sichtachsen, die noch von Unkraut und Plattenbauten, Hinterlassenschaften der DDR, verdeckt und verschandelt sind. (…)
In der Vitrine, die neben dem Eingang der Ausstellung über Syberbergs Nossendorf in der Deutschen Kinemathek steht, liegen weitere Inkunabeln dieses radikalromantischen Wiederaufbauprojekts: das Modell eines Ziegelpfostens, den Syberberg am Tor seines Anwesens wiedererrichten ließ, und ein »Schneeschüttler«, eine Glaskugel mit der Miniatur des früheren Gutshofs, jene Seitengebäude eingeschlossen, die dem Sozialismus zum Opfer gefallen sind. Dazu gibt es Filmausschnitte mit Edith Clever (aus dem Sechsstundenmonolog Die Nacht und dem Kleist-Reigen Ein Traum, WAS SONST), Aufnahmen des mit Syberberg befreundeten Fotografen Hans Pölkow, auf denen der Filmemache mit Susan Sontag, Heiner Müller und Gräfin Dönhoff zu sehen ist, und Bilder der Nossendorfer Idylle, die wie Szenenfotos aus Michael Hanekes Schwarzweißepos Das weiße Band wirken. Das Leben, ein Film von gestern. (…)“
Berliner Zeitung, 18. November 2010
Für den Kirchturm kann man spenden
Im Museum für Film und Fernsehen: Syberbergs „Nossendorf-Projekt"
Von Bert Rebhandl
Das kleine Nossendorf in Mecklenburg-Vorpommern verfügt über eine frühgotische Backsteinkirche und ein Gutshaus, in dem 1935 Hans Jürgen Syberberg geboren wurde, aus dem ein wichtiger Filmemacher und Autor wurde. (…) Hans Jürgen Syberberg ist zuerst einmal der Mann, der Hitler – Ein Film aus Deutschland (1977) gemacht hat: Es war ein Versuch, den Nationalsozialismus in Gestalt seiner Führerfigur aus dem Zusammenhang der deutschen Geschichte, aus dem 19. Jahrhundert heraus zu denken und zu dekonstruieren. Von diesem zentralen Projekt her werden bis heute die anderen Syberberg-Projekte gesehen, von seinem in der Auseinandersetzung mit Brecht entwickelten früheren Werk bis zu den spröden Monumentalfilmen der späteren Jahre. Zunehmend hat sich Nossendorf für ihn wieder ins Zentrum geschoben, was seinen sichtbarsten Ausdruck in vier Webcams auf seiner Webseite findet, auf denen man ständig sehen kann, was es da oben Neues gibt. Diese Webcams sind auch Teil des »Nossendorf-Projekts« im Museum für Film und Fernsehen, das mit der Ausstellung an ein größeres Syberberg-Projekt anschließt, das 2003 im Pariser Centre Pompidou eine Verbindung »Paris-Nossendorf« gezogen hatte. (…)“
Der Tagesspiegel, 19. November 2010
Zurück in die Kindheit
Hans Jürgen Syberbergs »Nossendorf-Projekt«: eine Ausstellung in der Deutschen Kinemathek
Von Peter von Becker
Der erste Blick in dieser Ausstellung fällt auf zwei Vitrinen. Darin finden sich Pinsel und Retouchierbesteck von Hans Jürgen Syberbergs Vater, der nach dem Krieg und der Vertreibung der Familie von ihrem Gut im mecklenburgischen Nossendorf zunächst in Rostock eine Existenz als Fotograf versuchte. Syberberg hat von ihm die Leidenschaft für Filme und Fotos geerbt – und die Sehnsucht nach der verlorenen Zeit, dem verlorenen Land. Seit zehn Jahren ist er zurück und restauriert in Nossendorf die Stätte seiner Kindheit, die er zudem mit ununterbrochen laufenden Kameras zu seinem »Film nach dem Film« gemacht hat.
Eine kleine Schneekugel, gleichfalls in der ersten Vitrine, enthält die Nachbildung des Guts und der Kirche von Nossendorf; eine Liliput-Version des ganzen »Projekts«. Doch spielt das Requisist auch auf Orson Welles an und eine ähnliche Kugel in Citizen Kane. Nicht zufällig entführt die zweite Vitrine nach Amerika und zeigt Syberberg mit Frau und Tochter und dem Kollegen Werner Herzog zu Hause bei Francis Ford Coppola in San Francisco. Coppola gehörte neben Martin Scorcese und Susan Sontag zu den frühen Fans der Syberberg-Filme. Deswegen läuft ein Stockwerk tiefer am Info-Stand der Deutschen Kinemathek eine 10-Minuten-Doku des WDR rund um die von Coppola arrangierte New Yorker Premiere von Syberbergs Hitler - ein Film aus Deutschland im Januar 1980. Der Film war dort ein Sensationserfolg. Trotz sieben Stunden Länge, trotz seines Spagats zwischen tragikomischem Kasperletheater und dunkeldeutschem Mythos. (…)
Die Tageszeitung, 22. November 2010
Blickrichtung rückwärts
Utopischer Geist, störrischer Eigensinn, formal avantgardistisch, das alles aber in reaktionärer Absicht: Das Filmmuseum am Potsdamer Platz hat Hans Jürgen Syberberg die Ausstellung „Projekt Nossendorf" gewidmet
Von Ekkehard Knoerer
Einst hat Hans-Jürgen Syberberg Adolf Hitler im nebligen Urgrund deutscher Mythengeschichte verortet. Heute vernetzt er auf www.syberberg.de das mecklenburg-vorpommerische Nossendorf mit sich und der Welt, und zwar ganz buchstäblich. Neben vielen Verweisen auf Syberbergs große Filme gibt es gleich auf der Startseite einen Link zu einem Live-Bild vom Berliner Schlossplatz. Dort harrt ein dem seinen ähnliches Wiederaufbauprojekt der „Vollendung" (Syberberg), wie er das wohl sieht. (…) Am Potsdamer Platz, genauer im dort gelegenen Museum für Film und Fernsehen, ist Syberbergs Nossendorf-Projekt nun eine Ausstellung gewidmet. (…)
Einander gegenüber gebeamt werden am Potsdamer Platz Ausschnitte aus zwei der eher berüchtigten Edith-Clever-Monologe, mit denen Syberberg in den Achtzigern von der avantgardistischen Mythenzerlegung ins Privatmythische abbog. Auch in Die Nacht (von 1984/85) und Ein Traum, was sonst (1991/94) figuriert Nossendorf schon als Ort mit Projektionen aufladbarer Vergangenheit. Daneben zeigt die Ausstellung in höchstmöglicher Gegenwärtigkeit die Livebilder von vier Webcams, mit denen Syberberg sein Gut zu Tag und zu Nacht der Welt präsentiert. In einer kleinen Nische daneben sucht er auf alten Fotos die Nähe zu Heiner Müller, Francis Ford Coppola und Susan Sontag – Letztere hatte Syberbergs Hitler – ein film aus deutschland einst als „das ehrgeizigste symbolische Kunstwerk unseres Jahrhunderts" gepriesen. Diesen Ansprüchen ist in der Ausstellung nun das Modell des nach Syberbergs Willen unbedingt zu reinstallierenden Turms der Dorfkirche aufs Unmittelbarste benachbart. (…)